Bundeskanzler Helmut Kohl und UdSSR-Präsident Michail Gorbatschow haben sich darüber verständigt, dass ein künftig vereintes Deutschland "frei und selbst" gemäß der KSZE-Schlussakte von Helsinki über seine Bündniszugehörigkeit entscheidet. Das gab der Bundeskanzler am Montag auf einer gemeinsamen Pressekonferenz in Shelesnowodsk bekannt. Beide Staatsmänner hätten vereinbart, nach Herstellung der deutschen Einheit einen umfassenden grundlegenden Vertrag abzuschließen, der die deutsch-sowjetischen Beziehungen dauerhaft und gutnachbarlich regelt. Ein solcher Vertrag solle alle Bereiche umfassen. Ziel dieses Vertrages sei es, das deutsch-sowjetische Verhältnis auf eine Basis der Stabilität, der Berechenbarkeit und des Vertrauens zu stellen.
Kohl legte in acht Punkten die Ergebnisse seiner zweitägigen Beratungen mit Gorbatschow dar, die er als "neuen Höhepunkt in der Geschichte der deutsch-sowjetischen Beziehungen" charakterisierte. Seine Gespräche seien "von größter Offenheit, gegenseitigem Verständnis, persönlicher Sympathie" gekennzeichnet gewesen. Einigkeit bestehe zwischen beiden Seiten darin, dass die deutsche Einigung die BRD, die DDR und Berlin umfasst. Mit der Einheit würden alle Verantwortlichkeiten der vier Mächte abgegeben. Damit erhalte das vereinte Deutschland seine volle und uneingeschränkte Souveränität.
Ein vereintes Deutschland, so der Bundeskanzler, möchte Mitglied der NATO sein. Nach den Worten Kohls sei auch die Regierung der DDR dieser Meinung.
Kohl kündigte den Abschluss eines zweiseitigen Vertrages mit der Sowjetunion unmittelbar nach der Vereinigung über den Rückzug der sowjetischen Truppen aus dem Ostteil Deutschlands an, der in drei bis vier Jahren abgeschlossen sein soll. Solange sich noch sowjetische Truppen auf dem Gebiet der heutigen DDR befinden, würden die NATO-Strukturen nicht ausgeweitet. Nicht in den Nordatlantikpakt integrierte Territorialverbände der Bundeswehr sollen jedoch schon sofort nach der Einigung auf dem Gebiet der heutigen DDR und in Berlin stationiert werden können. Nach Abzug der sowjetischen Truppen könne jede Art von Verbänden der Bundeswehr stationiert werden. Es würden keine atomaren Trägermittel und keine nichtdeutschen Verbände stationiert. Wie Kohl weiter informierte, sollen während der sowjetischen Präsenz in Deutschland auch die Truppen der drei Westmächte in Westberlin verbleiben. Die Bundesregierung sei bereit, den laufenden Wiener Verhandlungen eine Verpflichtungserklärung abzugeben, dass die deutschen Truppen innerhalb der nächsten drei bis vier Jahre auf 370 000 Mann reduziert werden. Mit Gorbatschow sei ferner vereinbart worden, dass das vereinte Deutschland auf Herstellung, Besitz und Verfügung von atomaren, bakteriologischen und chemischen Waffen verzichtet.
Mit der Sowjetunion sei man darüber hinaus übereingekommen, zur Regelung wirtschaftlicher Fragen im Zusammenhang mit der D-Mark-Einführung in der DDR einen Oberleitungsvertrag mit einer Laufzeit Von drei bis vier Jahren zu schließen.
"Wir haben Realpolitik gemacht", sagte Michail Gorbatschow über seine Gespräche mit dem Bundeskanzler. Dies wäre aber kaum möglich gewesen. wenn nicht schon der Kontext dieser Gespräche vorhanden gewesen wäre. Die Vereinbarungen in der jetzigen Form "integrieren sowohl die Interessen der Bundesrepublik als auch die der Sowjetunion". Er, so Gorbatschow, gehe davon aus, dass die Deutschen die Lehren aus der Geschichte gezogen hätten. Der Präsident brachte die Hoffnung zum Ausdruck, dass nach dem Abzug des sowjetischen Militärs aus dem Ostteil Deutschlands keine anderen ausländischen Truppen dort stationiert werden. Bedeutungsvoll für seine Gespräche mit Kohl sei auch die Londoner NATO-Konferenz gewesen, die "nicht wenige positive Schritte" gebracht habe. Die Londoner Beschlüsse ermöglichten nun Vereinbarungen zwischen beiden Bündnissen. Am Ende eines mehr als 30-minütigen Frage-und-Antwort-Spiels mit den Journalisten, das auch Fragen der inneren Entwicklung der Sowjetunion berührte, erklärte der sowjetische Präsident, die von Kanzler Kohl ausgesprochene Einladung in dessen pfälzische Heimat nehme er an. Bundeskanzler Kohl kehrte am Montagabend in die BRD zurück.
(Neues Deutschland, Di. 17.07.1990)
Der Berater von DDR-Außenminister Markus Meckel, Carlchristian von Braunmühl schrieb in der "Frankfurter Rundschau" am 24.08.1990: "Das endgültige Aus für den Versuch, den Einigungsprozess in seien äußeren Aspekten von Berlin aus mitzugestalten kam mit dem Kaukasus-Abkommen zwischen Kohl und Gorbatschow."
Und: "... Handlungsspielraum für die Berliner Außenpolitik war mit dem 16. Juli nicht mehr vorhanden".