Vor der Volkskammer wurden die Abgeordneten gestern in ländliche Atmosphäre versetzt. Mit schlachtreifen Rindern und Schweinen protestierten in den Morgenstunden Werktätige der Berliner Fleisch GmbH (früher Fleischkombinat) und des VEG Tierproduktion Berlin gegen die bedrohlich sinkenden Absatzchancen für die DDR-Tiere. Zu Beginn der 23. Tagung blieb man dann in der Fragestunde gleich beim Thema. PDS-Abgeordnete brachten die Probleme der Bauern zur Sprache. Staatssekretär Kauffold antwortete. Im Entwurf des Staatshaushaltsplanes seien 5,2 Milliarden DM für die Landwirtschaft vorgesehen - weniger als die benötigten zehn Milliarden DM - dennoch könne nicht von einem "ökonomischen Ruinierungskonzept" die Rede sein. Von den DDR-Unternehmen forderte er etwas blauäugig, mehr als Anbieter aufzutreten und nicht nur auf Bestellungen zu warten.
Unübersichtlich, undurchschaubar und unkonkret war der Grundtenor, mit dem die Abgeordneten fast aller Fraktionen in 1. Lesung den Gesetzentwurf „Über die Gewährleistung von Belegungsrechten im Wohnungswesen" bedachten, mit dem die bisherige Wohnungsvergabe durch Zuweisungen beendet werden soll. Vorgesehen ist, dass sich künftig jeder Bürger, der von seinem Wohnungsamt einen Berechtigungsschein erhalten hat, selbständig nach Wohnraum umsehen muss. Zwar soll mit dem Gesetz Mietpreisbindung in kommunalen und genossenschaftlichen Wohnungen gesichert werden, die Abgeordneten fragten allerdings, warum es erst ab 1. September gelten soll und warum keine Mindestgeltungsdauer angegeben sei. Die CDU begrüßte die Mietpreiskontrolle durch die Regierung, forderte aber adäquate Regelungen für private Wohnungsvermieter. Vermisst wurden Aussagen zum Kündigungsschutz sowie zum verfassungsmäßigen Recht auf Wohnraum (PDS, Bündnis 90/Grüne).
Die im Handwerk und Gewerbe kursierende Beunruhigung hinsichtlich der Kündigung der Pacht- und Mietverträge für Gewerberäume und -flächen versuchte Wirtschaftsminister Dr. Gerhard Pohl zu legen. Auf Anfrage erklärte er, die jetzigen Nutzer hätten nach dem geltenden Zivilgesetzbuch das Recht auf Kündigungsschutz. Zudem könnten die bisherigen Mietpreise nicht einseitig vom Vermieter drastisch erhöht werden. In Kürze würde hierzu eine Regelung des Finanzministeriums, mit Richtlinien und Obergrenzen herausgegeben.
Das ist nun endgültig: Die DDR-Schornsteine werden jetzt nach BRD-Normen gefegt - das entsprechende BRD-Schornsteinfegergesetz wurde in Kraft gesetzt. Gleiches gilt für die Handwerksordnung.
Beschlossen wurde auch die Geschäftsordnung der Volkskammer, was mit Blick auf manche eigenwillige Debatten in den zurückliegenden Wochen bitter nötig war. Nach erster Lesung in die Ausschüsse verwies man einen Gesetzesantrag zu den Rechtsverhältnissen der Abgeordneten und einen Antrag zur Schaffung des Amtes für den Zivildienstbeauftragten.
Im Verlaufe des Vormittags war in der aktuellen Stunde über die Fristenregelung beim Schwangerschaftsabbruch debattiert worden. Außerdem standen Anträge zu Rechtsvorschriften über Kinder- und Jugendfragen im Mittelpunkt. Zuerst plädierte Ministerin Cordula Schubert für neue zentrale Strukturen. Ziel des vorgestellten Jugendhilfeorganisationsgesetzes sei das Aufräumen mit sozialistischen Vorstellungen, erklärte Frank Dietrich (CDU). PDS-Abgeordnete Margit Jentsch forderte, man dürfe angesichts der Finanzprobleme jetzt den Kommunen nicht allein die anstehenden Aufgaben überlassen, sondern müsse vorübergehende einheitliche Regelungen finden.
Zum Schluss der Sitzung brachte Junij Groß namens der PDS ein Gesetz zum Schutz und zur Förderung des sorbischen Volkes ein. Das Grundanliegen fand Zustimmung, moniert wurde die "PDS-Handschrift".
(Neues Deutschland, Fr. 13.07.1990)
Es stank gestern morgen zum Himmel, als die Abgeordneten die Treppe zu ihrem Parlamentsdomizil im Berliner Palast der Republik beschritten. Bauern und Schlachthofarbeiter hatten aus Protest gegen Absatzkrise und Preisverfall für ihre Produkte Schweine und Kühe vor den Palast getrieben. Das Borstenvieh benahm sich erwartungsgemäß da wurde Mist produziert.
Damit waren die Sinne sensibilisiert für die folgende Fragestunde des Parlaments. Der Überlebenskampf der Agrarproduzenten scheint sich zu einem Dauerthema in der Kammer zu entwickeln. Wenn die DDR-Landwirtschaft nicht bald am Boden liegt. Die Situation jedenfalls sei "sehr ernst", so ein Vertreter des einschlägigen Ministeriums in der Debatte. Die einheimischen Agrarbetriebe brauchten Zeit für Anpassung und Umstrukturierung an EG-Verhältnisse. Dafür stünden vier Milliarden D-Mark zur Verfügung. Benötigt jedoch würden zehn Milliarden. Einige Genossenschaften würden wohl pleite gehen, nun ging es darum, dass dies keine Massenerscheinung werde. Also weiterhin Bangen unter den Bauern.
Unwillen auch bei Handwerkern und Gewerbetreibenden wegen gekündigter Pacht- und Mietverträge für Gewerberäume und -flächen. Wirtschaftsminister Dr. Pohl versuchte zu glätten: Nach geltendem Zivilgesetzbuch hätten sie ein Recht auf Kündigungsschutz. Einseitig dürften Mietpreise nicht drastisch erhöht werden. Richtlinien und Obergrenzen hierfür würden in Kürze durch den Finanzminister geregelt.
Um die DDR-Fristenregelung beim Schwangerschaftsabbruch ging es dann in einer aktuellen Stunde. Ministerin Dr. Schmidt wartete mit Zahlen auf: 77 Prozent der Bürger seien für eine Beibehaltung der jetzigen Fristenregelung, nur elf Prozent würden sich dagegen wenden. Dennoch solle die bisherige Regelung modifiziert werden. Mit umfassenderer Aufklärung müsse alles getan werden, damit der "Schwangerschaftsabbruch zur Ausnahme wird". Dem schlössen sich fast alle Fraktionen an. Allenthalben Warnungen vor der Kriminalisierung der betroffenen Frauen. Nur die Vertreterin der DSU nannte den Abbruch unter lebhaftem Widerspruch im Plenum Mord.
Widersprüchlich wurde von den Parlamentariern ein Gesetzentwurf "über die Gewährleistung von Belegungsrechten im Wohnungswesen" aufgenommen. Danach könnte jeder Bürger, der durch sein Wohnungsamt einen Wohnberechtigungsschein erhält, sich selbst eine geeignete Wohnung suchen. Keine Aussagen zum Kündigungsschutz und zum Verfassungsrecht auf Wohnraum. Die Ausschüsse werden beraten.
Ebenfalls gestern in erster Lesung Rechtsvorschriften für Normal- und Spezialkinderheime sowie Jugendwerkhöfe und Durchgangsheime und ein Beschlussentwurf zur Einrichtung des Amtes eines Zivildienstbeauftragten im Jugendministerium. Weitestgehend an bundesdeutsches Recht lehnen sich sowohl die Handwerksordnung als auch ein Schornsteinfegergesetz an, die nach zweiter Lesung das Parlament passierten.
Um den aus der DSU ausgetretenen Ministern Diestel und Ebeling den Übertritt in die CDU zu ermöglichen, stand ein Antrag auf Änderung des Gesetzes über Rechtsverhältnisse der Abgeordneten in erster Lesung auf der Tagesordnung. Danach soll ein Abgeordneter beim Wechsel seiner Partei sein Mandat nicht mehr verlieren. Ebenfalls in erster Lesung wurde auf Antrag der PDS ein Gesetz zum Schutz und der Förderung des sorbischen Volkes verhandelt. Trotz inhaltlicher Vorbehalte anderer Fraktionen wurde es ebenfalls in die Ausschüsse verwiesen. Wichtig wäre, so verschiedene Fraktionssprecher, dass die Rechte der Sorben auch in dem zu behandelnden deutschen Einigungsvertrag festgeschrieben werden.
Zum Abschluss der Tagung forderte ein Sprecher der Fraktion Bündnis 90/Grüne die Abgeordneten der Allianz auf, dem Kandidaten der Opposition für den Verwaltungsrat der Treuhandanstalt nach mehrmaligem vergeblichen Anlauf heute doch noch ihre Stimme zu geben. Wegen der Weigerung sei die Treuhandanstalt bisher nicht arbeitsfähig Hoffentlich ist Freitag, der dreizehnte, kein schlechtes Omen.
(Berliner Zeitung, Fr. 13.07.1990)