Ursprünglich wollten Bauern aus dem Kreis Geithain den ganzen 10 000 Liter fassenden Milchtank am Dienstagvormittag vor dem Gebäude der Bezirksverwaltungsbehörde Leipzig in die Gosse auslaufen lassen. "Mit dieser Verzweiflungstat", so erklärte Ernst Liebers, Vorsitzender der LPG Greifenhain und Sprecher der Geithainer Milchproduzenten, "wollten wir Bauern auf unsere katastrophale Lage aufmerksam machen." Dass die Bauern dann doch nicht zu diesem, von ihnen selbst verabscheuten Mittel greifen mussten, war Leipziger Bürgern zu danken. Sie taten, was der DDR-Handel den Bauern verweigert: Sie nahmen den heimischen Landwirten Milch ab. Kommentar einer Hausfrau: Richtig, was die Bauern machen. So kann das nicht weitergehen.
Nach der teilweise sehr heftig geführten Debatte mit dem Regierungsbevollmächtigten des Bezirkes Rudolf Krause verließen die protestierenden Bauern die Bezirksverwaltungsbehörde unzufrieden. Das Maß sei voll, die Milch laufe über, so die einhellige Meinung der mehr als 200 Anwesenden. Die zahlreichen Fragen der Bauern, so zur versprochenen fünfjährigen Anpassungszeit für die DDR-Landwirtschaft und zu Subventionen, blieben unbeantwortet. Ist der Ruin gewollt? Die Kritik an der Landwirtschaftspolitik der Regierung war schonungslos offen. Ebenso am Handel.
(Neues Deutschland, Mi. 11.07.1990)
Das Maß ist voll, die Milch läuft über! Wer verdient an unserer Arbeit? Mit diesen Losungen erhoben gestern Vormittag Bauern und Werktätige der Verarbeitungsindustrie aus den Kreisen Geithain, Borna und Altenburg vor dem Gebäude der Bezirksverwaltungsbehörde Protest gegen die derzeitige Misere in der Landwirtschaft. Als sichtbares Zeichen ihres Zorns ließen sie aus einem 10 000 Liter-Tank einige hundert Liter Milch auf die Straße plätschern. Pflanzenbauer, Tierproduzenten und Molkereiarbeiter verschenkten von mehreren Fahrzeugen Kartoffeln, Gurken, Eier, Quark und weitere Produkte an die zahlreichen Straßenpassanten. Sie dokumentierten damit, dass ihre Erzeugnisse vom Handel nicht abgenommen werden.
In einer teilweise heftig geführten Aussprache mit dem Regierungsbevollmächtigten Dr. Rudolf Krause forderten die aufgebrachten Landwirte endlich Schluss zu machen, dass die DDR-Landwirtschaft ins kalte Wasser geschmissen und an den Rand der Gesellschaft gedrückt wird.
Die Marktorganisation klappt nicht, die EG-Normen wirken nicht. Fragen über Fragen an den Regierungsvertreter, der die zu beschwichtigen versuchte. Er versprach heute Antwort zu geben. Bleibt sie aus, ist sie unbefriedigend, ziehen Bauern aus allen Kreisen des Bezirkes zum Sitz der Regierung nach Berlin. Leider, und das wurde mit Buh-Rufen aufgenommen, waren keine Vertreter des Landwirtschaftsministeriums wie des Handels zugegen.
Von ihnen wollte man wissen, wann ein geregelter Übergang zur Drosslung der Produktion kommt, was gegen das Zerschlagen der LPG unternommen wird? Kein Wunder, dass die Mitteilung von Ernst Lieders, Vorsitzender der LPG (T) Graifenhain über die nicht befriedigenden Antworten der Bezirksverwaltung bei den aufgebrachten Bauern vor dem Verwaltungsgebäude Pfiffe erntete. In der Tat. Wenn nicht bald etwas geschieht, ist der nationale Notsand der Bauern perfekt.
In den Molkereien des Bezirkes lagern 700 Tonnen Butter, 400 Tonnen Milchpulver, 100 Tonnen Käse und 100 Tonnen Kondensmilch, zum Teil der Preiswucherei geschuldet. Da der Handel wenig abnimmt, lieber billige Importe einkauft und diese teuer verkauft, musste der Schlachthof Oschatz seit Montag die Rinderschlachtungen von 260 auf 70 Stück je Tag zurückfahren, der Schlachthof Döbeln, die Schweineschlachtung um 50 Prozent reduzieren.
(Bauern-Echo, Mi. 11.07.1990)