Gegen den bundesdeutschen Paragraphen 218, der Schwangerschaftsabbruch unter Strafe stellt, und für die Beibehaltung der DDR-Fristenlösung demonstrierten am Samstag Tausende Frauen und Männer in beiden deutschen Staaten.
BerlinerInnen begannen den landesweiten Aktionstag mit einer zehnminütigen Blockade der Grenzübergänge Brandenburger Tor und Potsdamer Platz. Auf einer anschließenden Kundgebung am Platz der Akademie forderten Rednerinnen einen gesamtdeutschen Volksentscheid aller Frauen über den Schwangerschaftsabbruch. Der § 218 schütze nicht ungeborenes Leben, wie seine Verteidiger es postulieren, sagte Pastorin Christiane Markert sondern demütige und kriminalisiere Frauen. Der Schutz des ungeborenen müsse sich am Schutz des geborenen Lebens messen lassen. Kinderarzt Hartmut Bosinski bezichtigte Befürworter des Abtreibungsverbots der Beihilfe zur Kurpfuscherei. Vor Einführung der Fristenlösung 1972 seien in der DDR jährlich rund 70 Frauen an illegalen Aborten gestorben. DFD-Volkskammerabgeordnete Karin Bencze stellte die Frage nach der Glaubwürdigkeit der Regierung und erinnerte an Koalitionsvereinbarung und Regierungserklärung.
Dem Aufruf eines überparteilichen Frauenbündnisses, für das Ende jeglicher Reglementierung in Sachen § 218 zu streiten, folgten am Samstag in Bonn 20 000 VertreterInnen von Frauen-, Gewerkschafts- und Bürgerrechtsbewegungen. Gegen den "Schandparagraphen" wandte sich auch der Frauenarzt Dr. Horst Theissen.
(Neues Deutschland, Mo. 18.06.1990)
Berlin (Eig. Ber.) Der Frauensprecherrat der Industriegewerkschaften und Gewerkschaften ruft die Gewerkschaftsmitglieder auf, sich am Sonnabend, dem 16. Juni, am deutsch-deutschen Aktionstag gegen den § 218 des Strafgesetzbuches der BRD zu beteiligen. Nach wie vor beinhaltet er, dass ein Schwangerschaftsabbruch grundsätzlich strafbar ist. Wir Frauen wollen über unser zukünftiges Leben - ob mit oder ohne Kinder - selbst bestimmen. In zahlreichen Orten der BRD und der DDR finden Aktionen statt. Die Berlinerinnen und Berliner treffen sich um 11.00 Uhr auf dem Platz der Akademie.
(Tribüne, Fr. 15.06.1990)
"Ob Kinder oder keine, entscheiden wir alleine", war nur eine der unzähligen Losungen der ersten deutsch-deutschen Demo gegen den § 218 am Samstag in Bonn. Etwa 6 000 bis 7 000 Frauen und Männer zogen am Vormittag durch die bundeshauptstädtischen Gassen zum Münsterplatz. Dort ging es dann erst richtig los mit Ansprachen und Kulturfest. Frauen aus West - von unterschiedlichen Organisationen und Berufen - und eine aus Ost, Christina Schenk vom Unabhängigen Frauenverband, waren sich einig: 218 muss ersatzlos weg. Der "Schandparagraph" hat sich nicht bewährt - es wird nach wie vor abgetrieben. Es ist daher kein Schutz des ungeborenen Lebens, sondern nur eine Bevormundung der Frau durch den Mann - durch den alten Mann, der die Gesetze und die Politik macht. Monika Simmel-Joachim (Bundesvorsitzende der ProFamlia) und Magdalena Federlin (Verurteilte im Memminger Prozess, die gegen das Urteil Einspruch erhob) sprachen sich sogar gegen eine Fristenlösung aus. Sie halten betroffene Frauen für so verantwortungsvoll, dass sie - allein ihrer eigenen Gesundheit wegen - früh genug, also vor der 12. Woche, abtreiben.
Zu einer "kirchenglockenunüblichen" Zeit (13.50 Uhr) - Dr. Horst Theissen (verurteilter Arzt der Memminger Hexenprozesse) setzte gerade an zu reden - passierte es.
Die Glocken des Münsters bimmelten zu einer Trauung.
Ein Endringen mehrerer Demo-Besucher, um die vermeintliche Provokation abzustellen, blieb erfolglos. Das Münster war mit sechs Mannschafts-, einigen Kleinwagen und mehreren Polizisten umstellt. Dr. Theissen machte dann deutlich, dass es verlogen von Kirche und Staat sei, ungeborenes Leben "schützen zu wollen", wo ihnen doch oft Geborenes völlig egal ist.
Auch in der DDR wurde am Sonnabend gegen die Einführung der bundesdeutschen Abtreibungsregelung protestiert.
Wie in Bonn kam es auch bei uns zu Gegendemonstrationen von Abtreibungsgegnern.
Aus Bonn berichtet JW-Mitarbeiterin Simone Schmollack
(Junge Welt, Mo. 18.06.1990)