Moskau/Glasgow (NZ/dpa/ADN). Mit der Unterzeichnung einer gemeinsamen Deklaration ist am Donnerstagabend in Moskau die Tagung des Politischen Beratenden Ausschusses der Teilnehmerstaaten des Warschauer Vertrages zu Ende gegangen. Wie Regierungschef Lothar de Maizière gegenüber Journalisten erklärte, werde es den Warschauer Vertrag in der bisherigen Form künftig nicht mehr geben. De Maizière kündigte die Einsetzung einer Kommission von Regierungsbeauftragten der Teilnehmerstaaten an, die ein Konzept für ein künftiges politisches Bündnis der Warschauer Vertragsstaaten erarbeiten soll. Möglicherweise könnten seiner Auffassung nach schon bis zum KSZE-Gipfel gegen Ende des Jahres Ergebnisse vorliegen.
Zu Beginn der Beratungen hatte Präsident Gorbatschow über die Ereignisse seines Treffens mit US-Präsident George Bush in Washington informiert. Wie aus Delegationskreisen verlautete, hat Gorbatschow betont, dass Bush nicht mit einer Auflösung des Warschauer Pakts rechne, sondern von einem Fortbestehen des östlichen Bündnisses ausgehe. Aus dem Hinweis des Kremlchefs auf "durchaus verschiedene NATO-Mitgliedschaften" hätten Tagungsteilnehmer abgeleitet, dass es künftig auch beim Warschauer Pakt unterschiedliche Möglichkeiten einer Mitgliedschaft geben könne.
Es sei das heilige Recht der Deutschen, über die Gestaltung ihres Schicksals zu entscheiden, erklärte nach Angaben aus ungarischen Delegationskreisen Michail Gorbatschow in seiner Rede. Seit dem Krieg hätten beide Teile Deutschlands bewiesen, dass sie für die Verantwortung reif sind, die sie in der europäischen und der Weltpolitik tragen, und dass sie imstande sind, mit einer der demokratischen Umgestaltung entsprechenden Verantwortung Politik zu betreiben. Gorbatschow habe die Möglichkeit angesprochen, dass das neue, vereinigte Deutschland eine assoziierte Mitgliedschaft in NATO und Warschauer Vertrag haben könnte. Die Verpflichtungen gegenüber den Bündnissen könnten der Auffassung des sowjetischen Präsidenten zufolge so eingehalten werden. Ferner könnte dies auch ein Katalysator für ein neues europäisches Sicherheitssystem sein.
Gorbatschow habe die Frage aufgeworfen, inwieweit die Bündnisse den Erfordernissen der Zeit entsprechen. Dabei vertrete die Sowjetunion die Auffassung, der Warschauer Vertrag diene keinem Selbstzweck, er sei ein politischer Faktor, der die Aufrechterhaltung des Gleichgewichts fördert. Eines der wichtigsten Ziele sei es, einen möglichst störungsfreien, glatten Übergang zu einer künftigen gesamteuropäischen Struktur zu sichern. Der Warschauer Vertrag sei zur Lösung dieser Aufgabe geeignet.
In einer Sitzungspause sagte Außenminister Eduard Schewardnadse vor Journalisten, dass die UdSSR dem Westen regelmäßige Treffen der europäischen Außenminister alle sechs Monate vorschlagen werde. Ein "Zentrum zur Verhinderung einer Kriegsgefahr" solle gegründet werden. Schewardnadse: Falls Berlin Hauptstadt des vereinten Deutschlands wird, sollte dieses Zentrum seinen Sitz in Berlin haben.
Am Rande der Beratungen trafen de Maizière und Gorbatschow zu einem Gespräch zusammen. De Maizière schätzte die Begegnung als "außerordentlich freundlich und aufgelockert" ein. Nach wie vor gehe es darum, ein Übergangsmodell für die Zeit bis zur Schaffung bündnisüberwölbender Sicherheitsstrukturen für ganz Europa zu schaffen. Das gelte insbesondere auch für die Zeit, da auf deutschem Boden - möglicherweise eines vereinten Deutschlands - noch immer sowjetische Truppen stationiert sind. Das fachmännisch, ökologisch und sozial verträglich zurückzufahren, brauche mehrere Jahre.
Die NATO-Außenminister haben ebenfalls am Donnerstag im schottischen Küstenort Turnberry ihre Frühjahrstagung begonnen. Zu den Hauptthemen der zweitägigen Beratungen gehören die Probleme der Bündniszugehörigkeit eines vereinigten Deutschlands sowie die Vorbereitung des Treffens der Staats- und Regierungschefs Anfang Juli in London.
Einleitend erklärte der britische Außenminister Douglas Hurd, zur NATO-Mitgliedschaft Gesamtdeutschlands gebe es keine Alternative. "Ich weiß, dass dies der Sowjetunion immer noch große Sorge macht. Wir sind uns völlig darüber im klaren, dass die Vereinigung auf eine Weise ablaufen muss, die den berechtigten Sicherheitsinteressen der Sowjetunion Rechnung trägt", sagte er.
Bundesaußenminister Hans-Dietrich Genscher hat sich auf der Ministertagung für gesamtdeutsche Wahlen ausgesprochen. Sie müssten laut Verfassung spätestens bis zum 13. Januar realisiert werden, erklärte Genscher nach Angaben aus informierten Kreisen. Zuvor sollte die deutsche Frage und die Mitgliedschaft eines vereinten Deutschlands in der NATO im Rahmen der Zwei- plus-Vier-Deutschlandgespräche und auf dem KSZE-Gipfeltreffen im Herbst gelöst werden.
(Neue Zeit, Fr. 08.06.1990)
Lothar de Maizière sagte u. a., die neue Regierung der DDR tritt dafür ein, den Prozess der deutschen Einigung in die gesamteuropäischen Einigungsbestrebungen einzubetten. Die deutsche Vereinigung soll dem Prozess der Überwindung der Blockkonfrontation weitere Substanz hinzufügen. So erscheint es möglich, dass das vereinigte Deutschland zum Scharnier einer derartigen Entwicklung wird. Die Einheit Deutschlands soll so zu einem Gewinn für alle Staaten werden.
Wir meinen, dass der KSZE-Prozess eine geeignete Möglichkeit bietet, die Konturen eines neuen europäischen Sicherheitssystems abzustecken. Ich denke dabei auch an Mechanismen und Organe wie den Europarat, die EG und die Europäische Politische Zusammenarbeit sowie die ECE. In dieser Richtung sollte sich auch unsere sich demokratische Vertragsgemeinschaft einbringen. Nicht zuletzt denke ich schließlich an eine gründlich reformierte NATO, die auf ihre bisher gültige Strategie der "flexible response" mit ihren Leitprinzipien des nuklearen Ersteinsatzes und der Vorneverteidigung grundsätzlich verzichtet. Einer so deutlich geänderten NATO könnte das vereinte Deutschland mit einem militärischen Sonderstatus des heutigen DDR-Territoriums in einer Übergangszeit bis zur Schaffung der Europäischen Sicherheitsunion angehören.
Zugleich sollte auf der Ebene der Außenminister ein Rat für Sicherheit und Zusammenarbeit in Europa gebildet werden, der in Abständen von etwa 6 Monaten und auf der Ebene von Botschaftern jeweils einmal monatlich tagen sollte. Zur Gewährleistung der Arbeitsfähigkeit dieses Gremiums wäre es zweckmäßig, ein kleines Sekretariat zu bilden. Darüber hinaus erscheint es im Interesse der allmählichen Herausbildung gesamteuropäischer Sicherheitsstrukturen geboten, für bestimmte Bereiche mit der Bildung von Zentren sicherheitspolitischen Kooperation auf Feldern wie Vertrauensbildung, Rüstungskontrolle und Verifikation, Konversion sowie friedliche Streitbeilegung praktisch zu beginnen.
Die DDR wird ihre Mitgliedschaft im Warschauer Vertrag dazu nutzen, die politische Zusammenarbeit unserer Staaten im Rahmen der Organisation des Warschauer Vertrages zu intensivieren mit dem Ziel, an der Herausbildung europäischer Sicherheitsstrukturen mitzuwirken.
Beginnen sollten wir damit, den Text des Warschauer Vertrages den neuen politischen Gegebenheiten in Europa anzupassen. Das soll nicht etwa durch Neuverhandlungen des Vertrages, sondern durch die Streichung jener Elemente erfolgen, die der neuen Situation nicht mehr entsprechen. Das gilt z. B. für eine Reihe von Aussagen in der Präambel des Vertrages. Wir sollten nachdrücklich erklären, dass diese gegen die NATO und die Westeuropäische Union gerichteten Aussagen heute keine Gültigkeit mehr besitzen. Unsere Tagung könne z. B. eine Botschaft an den bevorstehenden NATO-Gipfel richten, in der diese Veränderungen des Charakters unserer Vertragsgemeinschaft erklärt werden und das Herangehen des Warschauer Vertrages an die Fragen der Überwindung von Militärbündnissen und die Schaffung gesamteuropäischer Sicherheitsstrukturen erläutert werden.
ECE Economic Commission for Europe
EG Europäische Gemeinschaften (heute EU Europäische Union)
Der sowjetische Außenminister Eduard Schewardnadse führte gegenüber DDR-Außenminister Markus Meckel aus, die aktuelle Position der Sowjetunion ist durch die Begriffe Übergangsperiode und doppelte Mitgliedschaft gekennzeichnet. Die Beziehungen werden entmilitarisiert und entfeindet. Am Ende des Prozesses der Umformung spielt die Zugehörigkeit zu einem der beiden Bündnisse keine oder nur noch eine untergeordnete Rolle.
Das Beharren des Westens auf eine NATO-Mitgliedschaft Deutschlands habe auch seinen Grund in der Angst Deutschland und die Sowjetunion könnten sich verbünden.
Für Außenminister Markus Meckel könne die gemeinsame Sicherheitszone von der ČSFR, DDR und Polen eine Klammer zwischen beiden noch existierenden Bündnissen sein. Wie die Sicherheitszone in ausgestaltet werden sollte, sei im einzelnen noch auszuarbeiten. Fragen der zukünftigen Bündniszugehörigkeit, die Ablösung der Vier-Mächte-Rechte dürfen nicht unbefristet offengehalten werden.
Es wurde eine Anfrage an die DDR-Delegation gestellt, ob es zuträfe, dass zwei Mitglieder der Delegation keine DDR-Bürger seien. Der Politische Direktor und der Leiter des Planungs- und Beratungsstabes im DDR-Außenministerium kamen aus der BRD bzw. Westberlin.