Der Antifa-Demonstrationszug der rund 5 000 Jugendlichen am Sonnabend hatte an der Erlöserkirche nahe dem S-Bahnhof Rummelsburg begonnen. Er führte über mehrere Kilometer durch zahlreiche Straßen bis zum Tierpark und dann zum Ausländerwohnheim in der Hans-Loch-Straße. Geplant war, vor dem von den Faschos besetzten Haus Weitlingstraße 122, in dem man außer Neonazis aus eigenen Landen auch Abgesandte der Kühnen-Truppe aus der BRD und österreichische Faschisten wusste, zu demonstrieren. Doch die Polizei hatte einen Kordon um das Viertel gezogen. Auf dem Dach und den Balkonen des NA-Objekts die Faschos, an den Wänden Plakate "Deutsche wehrt euch", "Integration gleich Völkermord", die Reichskriegsflagge - mit lautstarken Protesten "unsere Polizisten schützen die Faschisten" reagierten sich derart provoziert fühlende Demonstranten ab. Etwa 200 Vermummte lieferten den Uniformierten erste Rempeleien, versuchten vergebens, die Sperre zu durchbrechen. Explosionen von Knallkörpern markierten hörbar die Strecke, sichtbar zurück blieben parolenbeschmierte Häuserwände. Vor dem Tierpark-Eingang Bärenschaufenster wurden ein unbeteiligter Mann von einem Rowdy zusammengeschlagen, Verkaufsstände geplündert, ein Kfz mit grellgelber "Camel"-Reklame demoliert. RAF-Sympathisanten, so meinten Augenzeugen, hätten durch Sprechchöre die Stimmung aufgeheizt. Im friedlichen, hinteren Teil des Marsches waren Losungen wie "Ausländer bleiben - Nazis vertreiben" zu hören. Ziel war das Ausländerwohnheim. Den dort Lebenden wollte man auf einem Meeting Solidarität bekunden. Doch dazwischen platzte eine Ansage aus einem Lautsprecherwagen, der den Zug begleitet hatte: 200 Faschos seien mit Baseballschlägern bewaffnet in der Weitlingstraße vor ihre Tür gegangen. Ein Aufschrei der Empörung. Dem Ruf "zurück zum Münsterlandplatz" (am Ende der Besetzerhäuserzeile) folgte nur ein Teil.
Ein anderer von etwa 400 militanten Kräften zog in Richtung Weitlingstraße. An der Lück-/Ecke Wönnichstraße trafen die Randalierer auf die Vermummte warfen Pflastersteine, Stahl- und Glaskugeln, schlugen mit Eisenstangen, sprühten Reizgas, schleuderten Brandflaschen auf VP-Fahrzeuge. Erst da ging die Polizei zum Gegenangriff über, setzte dem Krawall mit Wasserwerfern und Tränengas-, ein Ende. Kreuzberger Gewalttäter-Szene setzte sich in den Westen ab.
Am Abend war die Straßenschlacht beendet. Doch in der Weitling-/Ecke Lückstraße diskutieren erregte Polizisten noch lange mit Bewohnern des Viertels. Die einen: „Wir sind die Hanswürste der Politiker", "einerseits wollen die überprüfen, ob Polizisten, die langer als zehn Jahre dabei sind, überhaupt noch tragbar sind, aber bei solchen Einsätzen müssen, gerade wir ganz vorne stehen". Die, anderen: "Die in dem Haus da haben Waffen, das ist doch illegal, warum tut die Polizei nichts?". Der inzwischen herbeigeeilte Stadtrat für Inneres, Thomas Krüger: "Zweimal wurde nach den Waffen gesucht, ohne Erfolg." Auf eine ND-Frage nach der Lage, sagte Krüger, die Polizei habe sich bemüht, deeskalierend zu wirken, das müsse man honorieren. Durch die Westberliner Autonomen sei sie mit bisher unbekannten Problemen konfrontiert. Außerdem, so der Stadtrat, stehe man vor Altlasten: Die KWV Lichtenberg habe den Besetzern für das Haus Nr. 122 Verträge gewährt. Damit sei man mit einer Rechtslage konfrontiert. Auf keinen Fall werde akzeptiert, dass sich Rechtsradikale hier ausbreiten. Eine verfassungsrechtliche Überprüfung der NA sei im Gange, die Mietverträge würden überprüft. Am Sonntagabend distanzierte sich die MJV Junge Linke von der Großdemo. Starke Zweifel, ob diese Aktion antifaschistisch und somit humanistisch gewesen ist, bestünden, bei ihren Teilnehmern. Die Jungen Linken bitten die AnwohnerInnen um Verzeihung und versichern, dass keine Mitglieder ihrer Organisation an Gewalt beteiligt waren.
Ein erster Schritt, eine Lehre. Weitere werden von den Beteiligten zu ziehen sein, damit es nicht zu Schlimmerem kommt.
(Neues Deutschland, Mo. 25.06.1990)
Die Vereinigte Linke rief mit auf zu der Demonstration gegen die Nationale Alternative am vergangenen Samstag. In einer Presseerklärung teilte die VL u. a. mit:
"Mit aller Entschiedenheit aber distanzieren wir uns von Versuchen einer Minderheit, Massenproteste gegen Gewalt und Faschismus zu missbrauchen. Wer auf eigene Faust verantwortungslose Gewaltanwendung als Ausdruck seines Fehlverständnisses von antifaschistischer Aktion auf dem Rücken aller demokratischen und antifaschistischen Kräfte auszutragen bereit ist, hat sich selbst disqualifiziert und gefährdet unser aller Anliegen. Wer in offensichtlicher Ignoranz der Lage in der DDR die Polizei zur Zielscheibe von Gewalt im Namen des Kampfes gegen den Faschismus macht, sorgt dafür, dass neben der Polizei auch mit unserem antifaschistischen Anliegen sympathisierende Bevölkerungsteile empfänglich für die These der Demagogen vom 'Links- und Rechtsextremismus' werden. Wer so den Antifaschismus zum Linksextremismus degradiert, betreibt die Geschäfte der Reaktion. Wer verunsicherte Polizisten mit Brandflaschen und Steinen ins Lager der Konservativen drückt, die solcherart Anlässe nur zu gern gebrauchen, um den Polizeistaat hochzurüsten, will nicht zur Kenntnis nehmen, gegen wen dieser Polizeistaat sich dann im Bedarfsfalle richten wird: Jeder Bürgerprotest und jede Massendemonstration, ob nun gegen Arbeitslosigkeit, Sozialabbau, Einschränkungen der Demokratie oder eben gegen den Faschismus gerichtet kann dann als potentiell gewalttätig zur 'polizeilichen Eindämmung' freigegeben werden, und die Akzeptanz solcherart Vollzug von 'Rechtsstaatlichkeit' wird wachsen!"
(Neues Deutschland, Fr. 29.06.1990)
ADN/JW. Das Komitee der Antifaschistischen Widerstandskämpfer der DDR distanziert sich entschieden von den gewaltsamen Auseinandersetzungen in Berlin-Lichtenberg. Aufgrund der langen Lebenserfahrung der Kämpfer gegen den Faschismus rufen sie dringend alle dazu auf, politische Fragen nur mit politischen Mitteln zu lösen. Auch der Berliner Stadtrat für Inneres, Thomas Krüger (SPD), verurteilte den "'Randale-Tourismus' Westberliner Autonomer", lehnte jedoch eine Verschärfung der Polizeibefugnisse als falsche Antwort zur falschen Zeit ob.
(Junge Welt, Di. 26.06.1990)
NF zur Lichtenberger Demonstration am 23. 6. 1990
Unser Prinzip der Gewaltlosigkeit hat sich vom Herbst '89 bis heute bewährt. Wir bleiben dabei: Wir lehnen jede Anwendung von Gewalt als Mittel der Auseinandersetzung und als Mittel der Durchsetzung politischer Ziele ab, heißt es in einer Erklärung, die die Berliner Vollversammlung des Neuen Forum verabschiedete.
Natürlich stehen wir hinter dem Grundgedanken der Demo, die sich gegen Faschismus, Rassismus und Sexismus wandte und die Solidarität mit den ausländischen Mitbürgern zum Ausdruck brachte.
Wir fordern nachdrücklich, dass gegen die "Nationalistische Alternative" mit rechtsstaatlichen Mitteln vorgegangen wird. Es handelt sich um eine Organisation, die mit nationalistischen, ausländerfeindlichen und gewaltverherrlichenden Parolen gegen Verfassungsgrundsätze verstößt. darf auch nicht vergessen werden, dass von ihrer Parteizentrale in der Weitlingstraße (Berlin-Lichtenberg) seit Wochen Gewalt ausgeht.
Wir verurteilen die gewaltsamen Ausschreitungen, die mit unserem Verständnis von aktivem Antifaschismus nichts gemein haben.
(Berliner Zeitung, Mi. 04.07.1990)
"Wir fordern nachdrücklich, dass gegen die 'Nationale Alternative' mit rechtsstaatlichen Mitteln vorgegangen wird", heißt es in einer Erklärung der Berliner Vollversammlung des Neuen Forums zur Lichtenberger Demonstration am 23. Juni. Bei der NA handele es sich um eine Organisation, die mit nationalistischen, ausländerfeindlichen und gewaltverherrlichenden Parolen gegen Verfassungsgrundsätze verstoße. Es dürfe aber auch nicht vergessen werden, dass von ihrer Parteizentrale in der Weitlingstraße seit Wochen Gewalt ausgehe. Dadurch sei eine unerträgliche Spannung entstanden, die sich in dieser Demonstration zu entladen versuchte. Nach dem Verständnis des Neuen Forums haben die gewaltsamen Ausschreitungen nichts gemein mit aktivem Antifaschismus.
(Neues Deutschland, Di. 03.07.1990)