Berlin (ND-Reinert, Helling). Just am 49. Jahrestag des Naziüberfalls auf die Sowjetunion kamen die Außenminister der beiden deutschen Staaten und der UdSSR, der USA, Großbritanniens und Frankreichs in Berlin zur zweiten Runde der "Zwei-plus-vier-Verhandlungen über die äußeren Aspekte der deutschen Einigung" zusammen. Gleichsam als Antwort auf die erneute Beschleunigung des deutschen Einheitszuges, die die Verhandlungen unter zusätzlichen Druck setzte, sorgte UdSSR-Außenminister Schewardnadse mit einem neuen Vorschlagspaket für beträchtliches Aufsehen.
In einer dreijährigen Übergangsperiode, so Schewardnadse, sollte für die deutschen Streitkräfte eine Obergrenze von 200 000 bis 250 000 Mann festgelegt und die auf deutschem Boden stationierten Truppen der vier Siegermächte des zweiten Weltkrieges um die Hälfte reduziert werden. Nach weiteren 24 Monaten könnten die alliierten Truppen dann völlig abgezogen oder auf symbolische Kontingente begrenzt werden. Darüber hinaus sollten NATO und Warschauer Vertrag ihren Geltungsbereich in Deutschland für einen Zeitraum von fünf Jahren nicht ausdehnen.
Schon am Vormittag hatte Schewardnadse mit dem Vorschlag überrascht, die alliierten Truppen sechs Monate nach Bildung eines gesamtdeutschen Parlaments und einer Regierung aus dem Raum Großberlin abzuziehen. Gegenwärtig sind in Westberlin 6 000 US-Soldaten, 3 300 Briten und 2 700 Franzosen stationiert. Die Sowjetunion unterhält im östlichen Teil der Stadt außer Generalstabseinheiten so gut wie keine Streitkräfte, während in der DDR etwa 380 000 Sowjetsoldaten stationiert sind.
Die Schewardnadse-Vorschläge fanden jedoch bei seinen Amtskollegen offensichtlich wenig Gegenliebe. Auf einer internationalen Pressekonferenz in Berlin warnten die westlichen Außenminister vor einer "Singularisierung und Diskriminierung" des vereinten Deutschland. Zeitgleich mit der Vereinigung sollte ihrer Meinung nach Deutschland die volle Souveränität erhalten, und es sollten jegliche alliierte Rechte erlöschen. DDR-Außenminister Meckel unterstrich, dass man bei der Lösung der äußeren Aspekte der deutschen Frage besonders auch dies Sicherheitsinteressen der östlichen Nachbarn im Blick behalten müsse, niemand dürfe Verlierer in diesem Prozess sein. Er schlug vor, dass Deutschland in Ausübung seiner neugewonnenen Souveränität auf den Besitz, die Verbreitung und die Stationierung von ABC-Waffen verzichten sollte. Zugleich sprach er sich für eine freiwillige Begrenzung der künftigen deutschen Streitkräfte auf etwa 300 000 Mann aus. Wie der britische Außenminister Hurd formulierte, sei in Berlin noch kein Durchbruch erzielt worden.
Konsens bestand allerdings bereits darüber, ein Zwei-plus-vier-Schlussdokument rechtzeitig zum KSZE-Gipfel in Paris vorzulegen und diesen bereits für November vorzuschlagen. Im Anschluss an die Verhandlungen empfing DDR-Premier Lothar de Maizière die sechs Außenminister zu einer Unterredung. Vor Beginn ihrer Beratungen hatten sich die Außenminister am alliierten Grenzkontrollpunkt Checkpoint Charlie in der Friedrichstraße zusammengefunden. In einem symbolischen Akt wurde das Kontrollhäuschen nach 39 Jahren durch einen Drehkran entfernt. Die Außenminister sowie Ingrid Stahmer als Stellvertreter des Regierenden Bürgermeisters von Berlin (West) und der Oberbürgermeister von Berlin (Ost), Tino Schwierzina, hoben in kurzen Ansprachen unter anderem hervor, dass dieser Tag zu einem Symbol für Frieden und Gemeinsamkeit in Europa werden solle.
(Neues Deutschland, Sa. 23.06.1990)
DDR-Außenminister Markus Meckel halt eine Übergangsperiode auf dem Weg zur vollen Souveränität Deutschlands für "erträglich, wenn klar ist, wie lange sie dauert und wodurch sie abgelöst wird".
Das von Eduard Schewardnadse vorgelegte Papier mit dem Titel "Grundprinzipien für eine abschließende völkerrechtliche Regelung mit Deutschland" enthielt 14 Punkte.
US-Außenminister James Baker schreibt später in seinem Buch: Drei Jahre, die die Welt veränderten, Eduard Schewardnadse sagte in einem Gespräch mit ihm am Abend, die Ausarbeitung des Dokumentes sei von der innenpolitischen Lage in der Sowjetunion geleitet worden.
Die Außenminister billigen das bereits von Experten erarbeitete Papier "Prinzipien zu Grenzen" und die Gliederung für Elemente einer abschließenden Regelung.
Vor dem Treffen wird von der DDR-Seite der BRD-Seite der Vorschlag unterbreitet, beiden Seiten sollten die vorzeitige Ablösung des Berliner alliierten Sonderstatus vorschlagen. Was aber von der BRD-Seite abgelehnt wird.
Im Berliner Kongresszentrum findet eine Pressekonferenz mit den sechs Außenministern statt.
Für die USA war die Entfernung des Kontrollhäuschen "Checkpoint Charlie" am Grenzübergang in der Friedrichstraße in Berlin als Symbol an diesem Tag medienwirksam wichtig. Das Original steht heute im Alliierten Museum in Berlin-Dahlem. In der Friedrichstraße steht eine Nachbildung.