Der "Sozialismus" hat künftig in der Verfassung der DDR keinen Platz mehr. Das sieht eine Regierungsvorlage für eine umfangreiche Verfassungsänderung vor, die gestern auf der 7. Tagung der Volkskammer in 1. Lesung behandelt und an die zuständigen Ausschüsse weiterverwiesen wurde.
Künftig bekennt sich die DDR zur "freiheitlichen, demokratischen, föderativen, rechtsstaatlichen und sozialen Grundordnung", heißt es darin. Das bedeutet unter anderem, dass alle Regelungen, die zur Einhaltung der sozialistischen Staats- und Rechtsordnung oder der sozialistischen Gesetzlichkeit verpflichten, nicht mehr angewandt werden.
Damit wurde ein wesentlicher Schritt zur Anpassung an die Erfordernisse des Staatsvertrages eingeleitet, wie mehrere Abgeordnete in der kontrovers und teilweise sehr scharf geführten Debatte feststellten. Parlamentarier der Opposition kritisierten, dass mit diesen Änderungen wieder nur Flickschusterei betrieben würde. Wolfgang Ullmann vom Bündnis 90 sprach gar vom "Nebel unverbindlicher Deklarationen, denen die Unehrlichkeit im Gesicht geschrieben" stehe. Er brachte noch einmal den Verfassungsentwurf des Runden Tisches in Erinnerung, aber ohne großen Erfolg.
Übereinstimmung aber herrschte, dass die derzeit gültige Verfassung kaum noch den Realitäten Rechnung trägt, die ständigen Änderungen an Einzelparagraphen nur der Entwicklung hinterherlaufen und kaum der allgemeinen Rechtssicherheit dienen. Die jetzt beabsichtigten Änderungen brechen mehrere Grundpfeiler aus dem bisherigen Verfassungsgebilde aus den Jahren 1968 und 1974. So wird auch das Recht auf Arbeit darin fehlen. Der Staat fördert nur noch das Recht, durch Arbeit ein menschenwürdiges Leben in sozialer Gerechtigkeit und wirtschaftlicher Freiheit zu fuhren, wie es in der Vorlage heißt. Nunmehr verfassungsrechtlich gesichert werden soll auch die Tarifautonomie von Arbeitergebern und Gewerkschaften.
Verabschiedet wurde gestern mit Zwei-Drittel-Mehrheit eine Kommunalverfassung der DDR, die den Kommunen eine weitgehende Selbständigkeit einräumt. Hierin sind auch plebiszitäre Formen der Mitbestimmung wie Bürgerbegehren, Bürgerentscheid und Bürgerantrag enthalten.
Per Beschluss wurde die Legislaturperiode der Bezirkstage bis zum Ende dieses Monats begrenzt. Für die Übergangszeit bis zur Bildung der Länder sollen Regierungsbevollmächtigte in den Bezirken eingesetzt werden, denen beratend das Gremium der Volkskammerabgeordneten des jeweiligen Territoriums zur Seite steht.
Um ihr täglich Brot brauchen sich die Abgeordneten künftig auch nicht mehr zu sorgen. Im Abgeordnetengesetz, das gestern in 1. Lesung behandelt wurde, sind auch die monatlichen Entschädigungen für jeden Abgeordneten festgelegt.
Man kann das Geheimnis lüften: Monatlich bekommt jeder eine Entschädigung von 3 600 Mark (versteuert) und eine Kostenpauschale von 2 300 Mark. Damit können sie wohl leben.
Abgelehnt wurde von den Parlamentariern mehrheitlich ein Antrag der PDS zum Schutz des Binnenmarktes vor westlicher Konkurrenz. Wirtschaftsminister Pohl allerdings berichtete dem Plenum über bereits eingeleitete bzw. beabsichtigte Maßnahmen der Regierung, die dem gleichen Ziel dienen und zum Teil sogar mit dem Antrag übereinstimmen. Nahezu völlige Einigkeit herrschte bei der Annahme eines Antrages der DSU-Fraktion, der vorsieht, Arbeitsplätze und Lehrstellen für Abgänger von Sonderschulen gesetzlich zu garantieren.
Verwundert zeigten sich einige Abgeordnete über die große Polizeipräsenz rund ums Tagungsgebäude. Innenminister Diestel verteidigte diese mit beabsichtigten Morddrohungen gegen Volkskammerpräsidentin Bergmann-Pohl sowie einen Fraktions- und einen Parteivorsitzenden.
(Berliner Zeitung, Fr. 18.05.1990)