Die von den Gewerkschaften am Vortag angekündigten landesweiten Protestdemonstrationen gegen mögliche negative Auswirkungen des Staatsvertrages haben gestern zum Teil erhebliche Ausmaße erreicht.
Groß war die Resonanz vor allem bei den Bauern, Pädagogen und Kindergärtnerinnen sowie bei den Beschäftigten der Textil-, Bekleidungs- und Lederindustrie.
Auf dem Berliner Marx-Engels-Platz versammelten sich rund 2 000 Streikende, um Bildungsminister Prof. Dr. Hans Joachim Meyer zu Verhandlungen aufzufordern. Zuvor waren mancherorts, wie im Stadtbezirk Hohenschönhausen, die Kindergärten und Schulen für einige Stunden geschlossen worden.
Von der aufgebrachten Menge vor der Volkskammer sichtlich beeindruckt, versuchte Minister Meyer die Wogen zu glätten. Er bekundete Verständnis für die Sorgen der Lehrer. Auf Beispiele aus dem Bildungsalltag, wonach geltendes Arbeitsrecht längst gebrochen werde, wusste er allerdings nichts anderes zu antworten, als dass "so etwas ungesetzlich" sei. Er wolle sich ein genaueres Bild verschaffen, wozu die zahlreichen ihm übergebenen Schreiben helfen sollen.
Die Gewerkschaft Unterricht und Erziehung, die zur landesweiten Protestdemonstration aufgerufen hatte, wertete diese inzwischen als erfolgreich. Erreicht worden sei, dass es Verhandlungen mit dem Ministerium geben werde.
Auch Sozialministerin Dr. Regine Hildebrandt sprach zu den vor der Volkskammer Versammelten. Sie kritisierte die bisherigen Verhandlungen beider deutscher Staaten zum Staatsvertrag. Sie verlangte die Abwendung der Gefahr, dass in der DDR die sozial Schwachen "völlig unter die Räder kommen".
PDS-Vorsitzender Gregor Gysi sprach beiden Ministern seinen Respekt dafür aus, dass sie im Unterschied zu anderen Regierungsmitgliedern wenigstens bereit seien, Rede und Antwort zu stehen. Das eigentliche Problem bei der Aushandlung des Staatsvertrages sehe er darin, "dass hier auf alte Art und Weise versucht wird, Geheimdiplomatie zu entwickeln".
Mit einer Verkaufsaktion auf dem Alexanderplatz protestierten Dutzende von Schuh- und Textilbetrieben dagegen, dass der DDR-Großhandel seit Jahresbeginn die Produkte nicht mehr abnehme. In Berliner Textilbetrieben war ein einstündiger Warnstreik vorausgegangen.
Warnstreiks und Protestaktionen wurden aus allen Teilen der DDR gemeldet. So standen auch in den sächsischen Betrieben der Textil-, Bekleidungs- und Lederindustrie für eine Stunde die Maschinen still. Mit Grenzblockaden und Straßensperrungen machten die Bauern erneut auf ihre Probleme aufmerksam.
(Berliner Zeitung, Fr. 11.05.1990)
Die Unruhe im Land nimmt zu. Die bisher größte Welle von Warnstreiks und Protesten überzog die DDR am Donnerstag, mit denen die Gewerkschafter gegen sich abzeichnende negative Auswirkungen des Staatsvertrages und gegen Sozialabbau demonstrierten. Sie verlangten den sofortigen Beginn von Tarifverhandlungen, den Schutz des Binnenmarktes sowie den Erhalt ihrer Arbeitsplätze. Überall machten die Werk tätigen deutlich, dass sie mit Entschlossenheit für ihre Forderungen kämpfen werden.
Auf dem Berliner Alex veranstalteten nahezu 50 Betriebe aus der Branche Textil, Bekleidung und Leder Sonderverkäufe von "auf Halde" liegenden Erzeugnissen. Sie fanden viel Aufmerksamkeit bei den Bürgern. Die Arbeiterinnen und Arbeiter forderten soziale Sicherheit, Einfuhrabgaben und Schutz gegenüber unkontrollierten Importen. Dem Aufruf ihrer Gewerkschaft zu Warnstreiks schlössen sich auch Tausende Werktätige der Lausitzer Textil- und Lederindustrie an.
Mit Streiks und einer Verkaufsaktion machten Erfurter in ihrer Bezirksstadt auf ihre Probleme aufmerksam. "Ich bin enttäuscht über die Ergebnisse des Gesprächs mit dem Ministerpräsidenten. Uns ist es als Gewerkschafter zu wenig, wenn man uns nur darum bittet, Vertrauen zu haben", erklärte BGL-Vorsitzender Wolfgang Kliemann aus der Schuhfabrik "Paul Schäfer".
Starke Resonanz fanden die Aufrufe zum Protest auch im VEB Kindermoden Aschersleben, in den Bekleidungsbetrieben in Zwickau, in Limbach-Oberfrohna, den Schuhfabriken Ehrenfriedersdorf, Oschatz, Hartha, Groitzsch, Leipzig, Altenburg, Pegau sowie Lauchhammer. Viele der Demonstranten wandten sich besonders gegen den Boykott ihrer Erzeugnisse durch den Großhandel.
Mehr als 500 Gewerkschafter protestierten in Halle am Donnerstagabend. Beate Mende von der IG Chemie, Keramik brachte es auf den Punkt: "Wir fordern eine soziale Marktwirtschaft, wie sie uns versprochen wurde." Einig war sie sich mit vielen Vertretern anderer IG, was dazu gehört: Tarifautonomie, Arbeitsplatzbeschaffungsprogramme, Schutz des Binnenmarktes.
Zum gleichen Zeitpunkt übergab der Sprecherrat der Landgewerkschaft in der Volkskammer eine Erklärung. Darin fordern die Gewerkschafter konstruktive Gespräche mit der Regierung über den Fortbestand der VEG, die Sicherung von Arbeitsplätzen und der sozialen Belange. Zugleich wurden im Namen der 600 000 Mitglieder Billiglöhne abgelehnt und die Aufhebung des verfügten Lohnstopps per 1. Mai verlangt In dem zum Teil kontrovers geführten Disput mit Staatssekretär Dr. Günter Krause wurde zugesichert, dass am kommenden Dienstag Gespräche zwischen Gewerkschaften und Regierung beginnen sollen.
Ihre Forderungen nach sozialer Sicherheit, nach Erhaltung der Kindereinrichtungen sowie der Anerkennung beruflicher Schlüsse bekräftigten auch Pädagogen und technische Angestellte des Bildungswesens. Allein im Bezirk Cottbus waren es 20 000. Rund 2 000 Gewerkschafter aus Berlin und Umgebung versammelten sich in den Vormittagsstunden vor dem Bildungsministerium und der Volkskammer. Der Minister für Bildung und Wissenschaft, Prof. Dr. Hans-Joachim Meyer, versicherte den Demonstranten, dass er sich für den Sozial- und Rechtsstatus der im Bildungswesen Beschäftigten einsetzen werde.
Mit einem Kompromiss endete ein Gespräch des Ministers für Verkehr, Horst Gibtner, und des Vorsitzenden der Gewerkschaft der Eisenbahner (GdE), die 300 Mark mehr Lohn für jeden Beschäftigten als Teuerungsausgleich zur Währungsunion und die Einführung der 40-Stunden-Woche mit vollem Lohnausgleich fordert. Die Gewerkschafter zeigten sich bereit, die Gespräche am 16. Mai weiterzuführen, dann auf der Grundlage des vorliegenden Staatsvertrages.
(Neues Deutschland, Fr. 11.05.1990)
Bittere Lehrlingslogik vielerorts in diesen Wochen. Geht der Betrieb ein, stehe ich da wie ein begossener Pudel, ohne Lehrabschluss, ohne Beruf, keine Arbeit, kein Arbeitslosengeld. Ein verdammt scharfer Wind weht der Marktwirtschaft samt Staatsvertrag derzeit voraus. Die Leute mit dem Plakat vor der Volkskammer am vergangenen Donnerstag wollen Kleidungsfacharbeiter werden. Aber auch ihrem Betrieb - dem VEB Modezentrum Berlin - steht das Wasser bis zum Hals. Einst halbstaatlich bis 1972, dann Vollblut-VEB, ringt der Betrieb ums GmbH-Dasein.
Wenn es nicht bald Einfuhrverbote in unserer Branche gibt, werden wir systematisch kaputt gemacht, so die Ökonomische Direktorin Karin Hartmann. Noch wird weitergearbeitet. Trotzdem können wir alle Lehrlinge nicht einfach rigoros kündigen", so die Ökonomin. Kompromisse werden seit Wochen gesucht.
(Junger Welt, Mo. 14.05.1990)