Berlin (ND-Dümde). Das massive Polizeiaufgebot bei der nächtlichen Durchsuchung des PDS-Parteivorstands begründete Westberlins Innensenator Pätzold (SPD) am Freitag damit, man hätte nicht ganz ausschließen können, dass "gebündelter Volkszorn dort organisiert wird". Nur zu kugelsicheren Westen sah er "eigentlich keinen Anlass".
Vor der Presse bekannte sich Pätzold zu seiner politischen Verantwortung für die Aktion, bestritt jedoch, dass sie der "Bekämpfung" der Partei dienen sollte. Ostberlins SPD-Innenstadtrat Krüger sprach hingegen von einer "politischen Dimension dieses Vorgangs", die in den Bereich falle, den er zu vertreten hat. "Ich kann das, was hier passiert ist, nur unterstützen", sagte er. Beide lehnten die Forderung des PDS-Vorsitzenden Gysi nach ihrem Rücktritt ab.
Der Innensenator zog in Zweifel, dass einer der Polizisten geäußert hat, die Zeit fünfzigjährger Zurückhaltung sei vorüber. Wenn sie gefallen sei, müsse er sie aber schärfstens missbilligen".
Pätzold bestätigte, dass er vorher von der Aktion wusste, doch gab bzw. zeigte er sich über deren Verlauf und Ergebnisse sehr schlecht informiert. Er behauptete, von einem PDS-Konto über 220 Millionen DM seien Beträge von 30 Millionen nach Holland und von 70 Millionen nach Norwegen jeweils auf das Konto "eines Sowjetbürgers" geflossen. Das wurde vom PDS-Vorsitzenden in einer Presseerklärung als "absolut unwahr" bezeichnet. Vielmehr seien "einmal 95 Millionen und einmal 12 012 650 DM" vorn Handelsbank-Konto der PDS auf ein Handelsbank-Konto der sowjetischen Firma Putnik überwiesen worden. "Entgegen den Behauptungen von Innensenator Pätzold war zum Zeitpunkt der Überweisung keine Zuständigkeit der Treuhand gegeben", erklärte Gysi. Entscheidend sei, dass der Oberstaatsanwalt noch in der "Nacht feststellte, dass keinerlei Gelder in angeblich dunkle Kanäle geflossen sind und es auch keinerlei Zusammenhang zum 'Rubelskandal' gibt." Pätzold hatte vor der Presse Vergleiche mit dieser Affäre angestellt.
Die nächtliche Durchsuchung ohne richterlichen Beschluss versuchte auch der Innensenator mit "Gefahr im Verzuge" zu rechtfertigen, doch konnte er das nicht plausibel erklären. Völlig unklar blieb auch, welcher Zusammenhang zwischen von Pätzold erwähnten Wohnungsdurchsuchungen in Westdeutschland und der Aktion im PDS-Parteivorstand bestehen könnte.
Dabei seien die Zimmer der Bundestagsabgeordneten Gysi und Modrow nur "betreten", nicht aber durchsucht worden, hatte der Innensenator erklärt, Ietzteres aber auch als zulässig hingestellt. Gysi warnte Pätzold davor, "nicht mit halbwahren Angaben bzw. mit offensichtlich falschen Versuchen die überaus peinliche nächtliche Razzia noch im nach hinein irgendwie zu rechtfertigen".
Rund 100 Mitglieder und Sympathisanten der PDS haben am Freitagabend vor dein Amtsgericht Tiergarten gegen die Durchsuchung des Karl-Liebknecht-Hauses protestiert. Auf Plakaten wurde "Hände weg von der PDS" gefordert.
(Neues Deutschland, Sa. 20.10.1990)
Berlin. BZ - P. Richter. M. Emmerich Ein fast durchweg kritisches Echo hat die Polizeiaktion ausgelöst, bei der in der Nacht zum Freitag die Berliner PDS-Zentrale von 150 bewaffneten und mit kugelsicheren Westen ausgerüsteten Beamten durchsucht wurde, jedoch Seine strafbaren Handlungen festgestellt werden konnten.
Anlass für die Maßnahme war die Überweisung von insgesamt 107 Millionen DM Parteigeldern an Empfänger in der Sowjetunion. Die Aktion sei in dieser ungewöhnlichen Form durchgeführt worden, da nach Auffassung von Staatsanwalt Stange "Gefahr im Verzuge" gewesen sei, d. h. mit weiteren Transaktionen habe gerechnet werden müssen.
PDS-Vorsitzender Gysi widersprach dieser Version auf einer Pressekonferenz gestern Mittag energisch. Es habe sich eindeutig um eine politische Aktion gehandelt, die sich in das seit einiger Zeit "von bestimmten Kräften“ betriebene Vorgehen gegen die PDS einordne. Offensichtlich solle dadurch eine Radikalisierung der Partei provoziert werden. Besonders scharf kritisierte er die Verletzung seiner Immunität als Bundestagsabgeordneter, gegen die er bei Bundestagspräsidentin Süssmuth Protest einlegte. Gleichzeitig forderte er den Rücktritt sowohl von Innensenator Erich Pätzold (SPD) als auch von Innenstadtrat Thomas Krüger (SPD), die beide über den Polizeieinsatz informiert waren.
Die Zahlungen der PDS resultierten nach Gvsis Angaben aus den "Altlasten der SED" und waren für die "Universität der Freundschaft der Völker" und ein Zentrum der internationalen Arbeiterbewegung bei Moskau bestimmt. Sie hätten nach einem Schreiben, der Kommission zur Überprüfung der Parteivermögen vom 22. Juni keiner Genehmigung bedurft und schon gar nicht der Kontrolle durch die Treuhandanstalt unterlegen.
Gysi widersprach damit Innensenator Pätzold, der dies als Grund für die Polizeiaktion angab. Nach dessen Ansicht war die Durchsuchung der PDS-Zentrale kein Auftakt zur Verfolgung dieser Partei. "Es geht nicht darum, dass es jetzt plötzlich wieder gegen die Kommunisten geht", äußerte Pätzold vor Journalisten im Rathaus Schöneberg.
Das Verhalten des PDS-Vorstandes gegenüber der Polizei wertete er als "äußerst kooperativ". Er bestritt eine Verletzung der Immunität Gysis, da dessen Arbeitsraum zwar betreten, aber nicht durchsucht worden sei. Das große Polizeiaufgebot erklärte der Senator damit, aus "Sorge vor Menschenansammlungen und dem organisierten Volkszorn" sei vorsorglich Schutzpolizei vor Ort gewesen.
Der Polizeieinsatz wurde von Vertretern fast aller Parteien als unangemessen bezeichnet. Besonders scharf wandten sich FDP-Politiker gegen die Verletzung rechtsstaatlicher Praktiken, aber auch die CDU sprach von "Rechtsbeugung", "Vorverurteilung" und "Kriminalisierung". Sogar der langjährige Verfassungsrichter Martin Hirsch (SPD) kritisierte, man habe "offenbar mit schweren Eisenstangen gegen Mücken geschlagen".
(Berliner Zeitung, Sa. 20.10.1990)