Vorschläge für den Ausbau der Rechtsordnung
Für den Ausbau der Rechtsordnung und die Erhöhung der Rechtssicherheit in der DDR treten die Mitglieder des Rates der Vorsitzenden der Kollegien der Rechtsanwälte in der Deutschen Demokratischen Republik ein. In einer Erklärung des Rates vom 25. Oktober 1989, die dem ADN übermittelt wurde, unterbreiten sie dazu erste Vorschläge. Sie beziehen sich unter anderem auf das Wahlgesetz, die Kontrolle der Rechtsvorschriften und anderer verbindlicher staatlicher Entscheidungen, das Strafrecht, die Strafprozessordnung, das materielle Verwaltungsrecht, das VP-Gesetz und das Steuerrecht.
In der Erklärung wird eingangs festgestellt, dass die Mitglieder des Rates die Lage im Lande als sehr ernst einschätzen. Wir sind davon überzeugt, heißt es, dass Fehlentwicklungen zu lange geduldet wurden, aber der Sozialismus als einzige Alternative zum Kapitalismus für die DDR nicht zur Disposition stehen kann. Es könne deshalb bei Reformen nicht um weniger, sondern nur um mehr Sozialismus gehen. Voraussetzung für Reformen sei eine ehrliche Analyse der Lage in allen Bereichen, von Errungenschaften ebenso wie von Fehlentwicklungen auf politischem, ökonomischem, wissenschaftlichem. juristischem, kulturellem und ethischem Gebiet. In der Erklärung wird betont: Wir begrüßen den begonnenen breiten gesellschaftlichen Dialog und halten ihn für den richtigen Weg zur Lösung der vor uns stehenden Probleme.
Die Mitglieder des Rates gehen für die Vergangenheit von folgenden Feststellungen aus: Unstrittig sei, dass es beim Ausbau der Rechtsordnung in der DDR beachtliche Erfolge gegeben habe, auf die aufgebaut werden könne. Es sei jedoch zugelassen worden, dass mit Begriffen wie "Sozialistische Demokratie" und "Sozialistische Rechtsstaatlichkeit" vielfach selbstzufrieden umgegangen sei, ohne sie ausreichend mit Leben zu erfüllen. Es müsse erreicht werden, dass das Wort "sozialistisch" vor solchen Begriffen nicht länger als Einschränkung, sondern als Erweiterung verstanden und empfunden werde. Ein Mangel bei der Formulierung von Bürgerrechten bestehe darin, dass sie nicht unabdingbar genug formuliert worden seien. Zu oft gebe es in den Rechtsvorschriften diesbezügliche Einschränkungen, wird in der Erklärung weiter festgestellt. In Einzelfällen habe es Verletzungen der Unabhängigkeit der Richter gegeben. Einige Personen in Funktionen hätten geglaubt, sich in die Rechtsprechung einmischen zu dürfen, was in Zukunft auszuschließen sei. Bei der Anwendung des § 213 des Strafgesetzbuches (Ungesetzlicher Grenzübertritt) habe es in letzter Zeit vielfach eine Verletzung der Gleichheit der Bürger vor dem Gesetz gegeben.
Die Rechtsanwaltschaft der DDR habe ihren Auftrag gegenüber den Mandanten stets sehr ernst genommen und spüre deshalb auch gegenwärtig das Vertrauen der Bürger. Selbstkritisch müsse jedoch festgestellt werden, dass bestimmte Fehlentwicklungen seit Jahren bekannt gewesen seien, ohne dass man öffentlich gegen sie vorgegangen sei. In der Erklärung des Rates heißt es dann: Abgesehen von einem neuen Reisegesetz halten wir folgende Rechtsentwicklungen für erforderlich:
1. Ein neues Wahlgesetz sollte die Auswahl zwischen mehreren Kandidaten ermöglichen und bei der Stimmenauszählung in jedem Stadium die öffentliche Kontrolle garantieren. Zu dieser Kontrolle sind wir in der DDR ohne internationale Beteiligung in der Lage.
2. Die Kontrolle der Rechts- Vorschriften und anderer verbindlicher staatlicher Entscheidungen auf ihre Verfassungstreue sollte erweitert werden. Nach unserer Auffassung sollte ein Organ geschaffen werden, an das sich auch Bürger wenden können, um entsprechende Überprüfungen zu veranlassen.
3. Wir brauchen ein Strafrecht, das klar zwischen Erlaubtem und Verbotenem unterscheidet und sich auf wirklich kriminelles Verhalten konzentriert, das von der Mehrheit der Bevölkerung als solches angesehen wird. Insbesondere bedürfen nach unserer Auffassung die Kapitel "Staatsverbrechen" und "Straftaten gegen die staatliche Ordnung" der Überarbeitung.
4. Die Arbeiten an der Neufassung der Strafprozessordnung sollten mit der Zielstellung konsequent fortgesetzt werden, das Recht auf Verteidigung und die Rechte der Geschädigten und Opfer von Straftaten wesentlich auszubauen. Die Transparenz der Rechtsprechung ist zu erhöhen. Untersuchungshaftanstalten und Einrichtungen des Strafvollzugs sollten in den Kompetenzbereich des Ministeriums der Justiz verlagert werden. Über Einschränkungen von Rechten der Untersuchungsgefangenen und der Strafgefangenen sollte ausschließlich der Richter entscheiden dürfen.
5. Das materielle Verwaltungsrecht sollte Schritt für Schritt neu gestaltet werden, um die Rechte und Pflichten der Bürger klarer zu formulieren und eine wirksame gerichtliche Nachprüfung zu ermöglichen. Neben der Erweiterung der gerichtlichen Nachprüfung auf weitere Verwaltungsentscheidungen ist es notwendig, die Kompetenz des Gerichts auszubauen und das Rechtsmittel gegen die Entscheidungen der Kreisgerichte zuzulassen.
6. Das VP-Gesetz ist nach unserer Auffassung neu zu gestalten, um die Befugnisse der Volkspolizei klarer zu formulieren. Dies würde die Rechtssicherheit nicht nur für die Bürger, sondern auch für die Polizisten erhöhen. Der vorläufige Personalausweis für Bürger der DDR, der sogenannte PM 12, sollte außer bei Verlust des Personalausweises nicht mehr an Bürger zur Einschränkung ihrer Rechte ausgehändigt werden dürfen.
7. Das Steuerrecht sollte für die Bürger vereinfacht, überschaubar und lebensnah gestaltet werden. Ungerechtfertigte Unterschiede in der Besteuerung von Handwerkern und Gewerbetreibenden sind zu beseitigen. Das Steuerrecht ist so zu gestalten, dass ihre Dienstleistungen gefördert und nicht gehemmt werden. Hinsichtlich der Vorfälle während der Demonstrationen am 7., 8. und 9. 10. 1989 wird in der Erklärung die Verletzung der Veranstaltungsverordnung durch die Demonstranten bedauert. Soweit von ihnen Gewalt ausgegangen sei, werde dies verurteilt. Andererseits könne man Übergriffe durch Mitarbeiter der Schutz- und Sicherheitsorgane während der Auflösung solcher Demonstrationen oder nach der Zuführung von Bürgern nicht hinnehmen. Den Rechtsanwälten sei diesbezüglich von erheblichen Übergriffen berichtet worden, die dringend der zugesicherten Aufklärung bedürften.
Abschließend heißt es in der Erklärung: Wir rufen die Rechtsanwälte unseres Landes auf, weiterhin ihren humanistischen Auftrag gewissenhaft zu erfüllen und jeden Mandanten mit aller Konsequenz mutig in jeder Rechtsangelegenheit zu vertreten. Das schließt die Verteidigung beschuldigter Demonstranten ebenso ein wie die Verteidigung beschuldigter Mitarbeiter der Schutz- und Sicherheitsorgane. Wir erwarten, dass die Rechtsanwälte aktiv am gesellschaftlichen Dialog teilnehmen, in der Diskussion neuer Gesetze ihre Erfahrungen und ihr Wissen einbringen und dadurch einen Beitrag dazu leisten, dass die Begriffe DDR, Sozialismus und Rechtsstaatlichkeit zu einer untrennbaren Einheit verschmelzen.
Die Erklärung trägt die Unterschriften des Vorsitzenden des Rates und Vorsitzenden des Rechtsanwaltskollegiums Berlin, Dr. Gregor Gysi, sowie der Vorsitzenden beziehungsweise stellvertretenden Vorsitzenden der Rechtsanwaltskollegien der anderen Bezirke der DDR.
(Neues Deutschland, Fr. 27.10.1989, Jahrgang 44, Ausgabe 253)