Im Prozess der deutschen Vereinigung gehört das Zusammengehen der beiden bestehenden Armeen zu den diffizilsten Problemen; auf heutigem DDR-Territorium dürfe nie ein Bundeswehr-Soldat stehen, das betonte Abrüstungs- und Verteidigungsminister Rainer Eppelmann erst letzte Woche.
Kurz darauf wurde JW die Kopie eines Briefes übergeben, der ahnen lässt, wie viel einfacher und radikaler bestimmte Grüppchen in der NVA diese Frage in den vergangenen Monaten am liebsten gelöst hätten.
Eine Gruppe von Obersten, einer davon gar aus dem Ministerium, wandten sich mit einem zweiseitigen Schreiben vor einigen Wochen an BRD-Verteidigungsminister Stoltenberg, da sie in den Kommandoverhältnissen der NVA eine Gefahr für die nationale Einheit sahen. (Ein fast absurdes Argument, da sich von der NVA im letzten Vierteljahr nun wirklich niemand mehr bedroht fühlen konnte.) Vorgeschlagen wurde dem Bundesverteidigungsminister trotzdem ein Drei-Punkte-Plan:
1."Sofortiger Beginn mit der geordneten Auflösung der Streitkräfte in der DDR." Für die Vorbereitung seien Offiziere und Berufskader der NVA in einer Organisation zu sammeln.
2. "Sicherung der Objekte der NVA und Waffensysteme für die Übernahme durch das künftige Bundesheer“.
3. "Organisation der Vorbereitung der möglichen Dislozierung (Stationierung) der Bundeswehr auf dem ehemaligen Territorium der DDR." Verraten wird dem Empfänger, dass man bereit ist, bei diesem Prozess aktiv mitzuwirken, und dass die Gruppe nur die Spitze eines Eisberges sei: "Eine Anzahl weiterer verantwortlicher Offiziere der NVA trägt sich mit dem gleichen Gedanken." Gewünscht wurden Kontakte und Unterstützung durch die Bundeswehr. Ob dieses devote Angebot in unseren Tagen noch in die Schublade Verschwörung und Verrat gehört, ist schwer zu sagen. Doch die Verwirklichung dieser Idee wäre wohl auf demokratischem Weg nicht machbar gewesen. Verteidigungsministerium, Regierung und Runde Tische hätten dem im Weg gestanden. (Dachte man also an eine Art Handstreich?) Einmal ganz abgesehen den Alliierten, speziell der Sowjetunion, die sich eine Stationierung der Bundeswehr auf dem heutigen DDR-Territorium ausdrücklich verbittet.
So haben die Herren wohl zu kurz gedacht. Vielleicht wollten sie sich im Vereinigungstrubel ja nur ein Hintertürchen öffnen, um auch in Zukunft die Uniform (oder eine andere) tragen zu können. Da die NVA morgen nicht aufgelöst wird, sollte man diesen Dingen auf den Grund gehen. Vielleicht gefallen ja den Schreibern die neuen Kommandostrukturen auch nicht. . .
Bernd Vetter
(Junge Welt, Mo. 23.04.1990)
Strausberg (ND-Funke). Um einen ominösen Brief ging es am Montag auf einer eigens deshalb einberufenen Pressekonferenz in Strausberg. Dabei dementierte der Minister für Abrüstung und Verteidigung, Rainer Eppelmann, eine in der Montagausgabe der "Jungen Welt" angefragte Verschwörung in den Streitkräften. In dem besagten Brief, den das Blatt auszugsweise veröffentlichte, hatte eine Gruppe von NVA-Obersten den Bundesverteidigungsminister Stoltenberg darum gebeten, die NVA aufzulösen und die Bundeswehr auf dem Gebiet der DDR zu stationieren.
Der persönliche Referent des BRD-Ministers habe auf Anfrage versichert, dass ein derartiger Brief seinem Minister nie vorgelegen habe. Eine solche Aufforderung, so Eppelmann, wäre ein Verfassungsbruch, der den sofortigen Ausschluss dieser Offiziere aus der Armee und ihre Bestrafung nach sich ziehen würde. Er habe sich noch in der Nacht zum Montag mit der "Jungen Welt" in Verbindung setzen wollen, "in der Hoffnung, dass ich die Auslieferung der Zeitung durch eine Bitte verhindern kann. Aber es ist leider keiner mehr dagewesen." So sei eine brisante Situation entstanden, die weder der DDR noch der NVA nütze und Verunsicherung schaffe.
(Neues Deutschland, Di. 24.04.1990)
Der internationalen Presse wurde am Montag in Strausberg eine Erklärung des Ministers für Abrüstung und Verteidigung, Rainer Eppelmann, übergeben.
In der Ausgabe der "Jungen Welt" vom 23. April 1990 wird ein angebliches Schreiben höherer Offiziere der NVA zum Anlass genommen, nach einer möglichen Verschwörung in den Streitkräften zu fragen. Es wird unterstellt, dass "vor einigen Wochen" eine Gruppe den Verteidigungsminister der BRD gebeten hätte, in die DDR einzumarschieren, die NVA aufzulösen und die Bundeswehr auf dem Gebiet der DDR zu stationieren.
Der persönliche Referent Minister Stoltenbergs hat auf Anfrage versichert, ein solcher Brief habe dem Minister nie vorgelegen. Die Aufforderung, wenn es eine solche gegeben hätte, wäre ein Verfassungsbruch, ein Verstoß gegen die Loyalität gegenüber der Regierung, die den sofortigen Ausschluss dieser Offiziere aus der Armee und ihre Bestrafung nach sich ziehen würde. Das Ministerium für Abrüstung und Verteidigung der DDR wertet den Artikel als reine Verunsicherungskampagne.
Wie Minister Rainer Eppelmann betont, habe er nach nur wenigen Tagen im Amt bereits eine Beruhigungsphase in der Armee eingeleitet. Seine Einführungsrede anlässlich der Amtsübernahme, die Regierungserklärung de Maizières und die Kontinuität der Konzeption des Friedens im Kernbereich Europas hätten einen Konsens der demokratischen Kräfte bewirkt. "Das klare Bekenntnis zur Wehrpflichtigenarmee, das Lob auf eine Volksarmee, die chinesische oder rumänische Zustände im Oktober und November verhindert hat, führte zu einem Motivationsschub bei den Soldaten", stellt der Minister fest. "Die eindeutige Aussage, keine NATO-Soldaten und damit auch keine Bundeswehrsoldaten auf dem Gebiet der heutigen DDR zu stationieren, hat Verunsicherungen der Verbündeten beseitigt.
Es sei abenteuerlich, auf einem offensichtlich in der Zeit der Modrow-Regierung aufgekommenen Gerücht eine Verschwörungstheorie aufzubauen. Zumindest sei es, ohne Recherche im neuen Ministerium für Abrüstung und Verteidigung der DDR, ohne Rückfrage bei den Adressaten des angeblichen Briefes, ein zweifelhafter journalistischer Stil."
(Neue Zeit, Di. 24.04.1990)
Nach Bekanntwerden des Briefes werden die drei Offiziere mit Befehl 03/90 am 30.04. wegen Verfassungsbruchs, Schädigung des Ansehens der NVA und Verletzung der Ehre und Würde ihres Offizierskorps entlassen. Darunter der persönliche Adjutant und Leiter des Leitungsstabes des Ministers für Abrüstung und Verteidigung.