Was die Spatzen seit Monaten von den Dächern pfiffen, ist nun eingetreten: Stern-Radio steht vor dem Aus. Die Berliner bleiben angesichts billiger Westerzeugnisse auf ihren Kassettenrecordern und Heimkomponenten sitzen. Zwar gibt es Verträge, aber keiner hält sich mehr dran. Wer will schon Trabi-Oldtimer, Elbflorenz-Schokolade oder eben Stern-Radio-Ladenhüter?
Gestern Nachmittag nun eine Belegschaftsversammlung, bei der die Luft brannte. Schließlich ging es darum, ob 3 400 Werktätige in Lohn und Brot bleiben oder nicht. Was der neue Betriebsdirektor Peter Andre auf den Tisch legte, ist der Griff nach dem Strohhalm. So - sieht das "Krisenmanagement" aus: Aufgliederung des Unternehmens in GmbH, die namentlich mit ausländischer Beteiligung auf die Beine kommen sollen. Darüber hinaus bietet der Betrieb Unterstützung bei privater Existenzgründung an.
Künftige Arbeitsplätze - genau das ist der springende Punkt. Mehrfach wurde in verständlich erregten Diskussionsbeitragen eine Zahl genannt. Es wird selbst im günstigsten Falle Entlassungen in der Größenordnung von 1 500 Werktätigen geben. Ganz zu schweigen von den Arbeitsplätzen in den Zulieferbetrieben, die gleichfalls stark gefährdet sind. Von einigen Leitern war in den Vortagen gegenüber ihren Kollektiven bereits angedeutet worden, dass am 30. April der letzte Arbeitstag ist. Dem widersprach Gewerkschaftsvorsitzender Lutz Bojahr heftig. Standpunkt der BGL: Am 15. Mai soll die Leitung das Gesamtkonzept auf den Tisch legen. Dann wird in einer Urabstimmung entschieden.
Aufgebracht viele Gewerkschafter darüber, dass sich am Mittwochmittag die Staatsbank geweigert hatte, das Geld für Löhne und Gehälter zu zahlen. Nach Intervention des Betriebsdirektors, er hatte, wie er sagte, mit Betriebsbesetzung gedroht, fließt das Geld. Bis auf Widerruf. Insgesamt sieht s aber finster aus, denn Stern-Radio hat 200 Millionen Mark Schulden. Starten die zu bildenden GmbH mit diesem Rucksack, verlischt der neue Stern, bevor er aufgegangen ist. Ungeteilte Zustimmung deshalb für den Vorschlag des Labormechanikers Fritz Gläser, sich sofort mit knallharten Forderungen an die neue Regierung zu wenden. Zustimmung, aber auch bohrende Fragen: Gilt denn das Arbeitsgesetzbuch noch? Wer finanziert einen Sozialplan? Was wird aus den Frauen im Mutterjahr, was aus den Rehabilitanden, den Lehrlingen? Was wird aus Alleinstehenden mit Kindern, was aus den älteren Werktätigen?
Der Glückstern von Stern-Radio ist untergegangen. Sich indes kampflos ins marktwirtschaftliche Schicksal zu fügen, dafür sprach sich gestern niemand aus. Das Wort des Betriebsdirektors "ich gebe nicht auf" - taugt als Wahlspruch fürs ganze Kollektiv.
(Neues Deutschland, Do. 12.04.1990)
Besorgte Anrufe bei "Tribüne": "Nach Ostern ist bei Stern-Radio Schluss." Bei den 2 700 Werktätigen dieses Berliner Betriebe wird das diesjährige Osterfest wohl wenig Feststimmung aufkommen lassen. Wir fragten BGL-Vorsitzenden Lutz Bojahr: Was ist bei euch los?
Fest steht: Stereokassettenrecorder SKR 1 000 und die Heimanlage HMK 200 - die beiden Haupterzeugnisse des Betriebes - werden nicht mehr gekauft. Der Handel nimmt nichts mehr ab. Lastkraftwagen mit Ware kommen zurück, Die Bestände wachsen und damit die Schwierigkeiten, Zulieferer zu bezahlen, Kooperationsverträge aufrechtzuerhalten, die Leute zu beschäftigen.
Klar ist: Der Betrieb verfügt derzeit über kein Erzeugnis, das ihm unter marktwirtschaftlichen Bedingungen als Gesamtbetrieb eine Zukunft bescheren könnte. Höchste Zeit also, sich über die Zukunft Gedanken zu machen. Unruhe und Drängen der Kollegen erzwang noch vor den Festtagen eine Belegschaftsversammlung, auf der die Betriebsleitung erste Vorstellungen einer Gesamtunternehmenskonzeption, die bis zum 30. April vorliegen soll bekannt machte. Danach ist die Aufsplitterung des Betriebes in vorerst sechs GmbH vorgesehen. Absichtserklärungen von interessierten Partnern, die das aussichtsreich ermöglichen, liegen laut Aussage der Betriebsleitung vor. Ein Stern am Himmel für Stern-Radio?
Die BGL sieht noch kein Licht. "Aus unserer Sicht erkennen wir diese Absichten der Betriebsleitung als Arbeitsschritte zur Lösung des Problems an, können uns aber mit den für uns heute sichtbaren Ergebnissen noch nicht zufriedengeben", so BGL-Vorsitzender Bojahr. Grund des Einspruchs: Von den Beschäftigten des Betriebes lässt sich in die vorgelegte Konzeption, wenn`s hoch kommt, etwa die Hälfte einordnen.
Deshalb verlangt die Gewerkschaftsleitung des Betriebes, dass die neue Regierung hier helfend eingreift. Die einfache Rechnung lautet: Entweder Millionen für Arbeitslose zahlen oder Millionen für neue Arbeitsplätze aufwenden. Für die Entwicklung unseres Landes und im Interesse der Menschen, die hier leben, ist es keine Frage, wie zu entscheiden ist.
(Tribüne, Do. 12.04.1990)