Woran vor einem Jahr noch keiner in der damaligen DDR gedacht hatte, ist jetzt für viele bittere Wahrheit. Arbeitslosigkeit und Kurzarbeit gehören nun auch in den neuen Bundesländern zum Sprachschatz. Fast 590 000 haben jüngsten Erhebungen der Nürnberger Fach-Anstalt zufolge keine Beschäftigung. Weitere 1,7 Millionen arbeiten kurz, etwa 650 000 davon weniger als 50 Prozent der normalen Zeit. Mehr als die Hälfte der Arbeitslosen sind Frauen. Ganze 23 000 freie Stellen waren den Arbeitsämtern im November gemeldet.
Länder haben ihre Spezifik
Die meisten Arbeitslosen gibt es in Betrieben, die aufgrund völlig veralteter Anlagen oder niedriger Produktivität und damit fehlender Konkurrenzfähigkeit die Währungs- und Wirtschaftsunion nur wenige Wochen über lebten. Typische Branden sind der Maschinenbau, die Elektrotechnik, der Schiffbau, die Chemie, der Kupfer- und Kalibergbau sowie die Landwirtschaft. Entsprechend treten regionale Unterschiede auf. Den Berechnungen der Bundesanstalt für Arbeit zufolge liegen seit Wochen Mecklenburg-Vorpommern und Berlin mit mehr als acht Prozent an der Spitze der Statistik. In einzelnen Kreisen, so den Bergbaugebieten Sondershausen und Sangerhausen, übersteigt die Quote zehn Prozent. Zuwachsraten von mehr als 35 Prozent von Oktober auf November verzeichnen Agrarkreise wie Wolmirstedt und Genthin.
Im industriellen Süden ist die Rate nicht so hoch, dafür gibt es dort mehr Kurzarbeiter. Offenbar versuchen die Großbetriebe, Zeit für Strukturmaßnahmen zu gewinnen. Sollte jedoch nicht bald eine Verbesserung der Auftragslage eintreten, werden auch viele Kurzarbeiter ihren Arbeitsplatz verlieren, meinen Ökonomen.
Auf der anderen Seite boomt es in den alten Bundesländern. Zweige wie der Fahrzeugbau und die Elektrotechnik verbuchen nie gekannte Zuwachsraten und stellen zusätzliche Arbeitskräfte, darunter Facharbeiter aus der Ex DDR, ein. Weit mehr als 100 000 pendeln täglich oder wöchentlich zwischen Ost und West. Etwa 300 000 haben 1990 ihren Wohnsitz ganz verlegt.
Während im Osten der Warenumsatz um 40 Prozent zurückging, schnellt er im Westen in die Höhe. Grund: Die neuen Bundesbürger versorgen sich häufig jenseits der ehemaligen Grenze. Der neue Absatzmarkt bringt Riesengewinne. Mit dem Rückgang der Industrieproduktion der ehemaligen DDR auf die Hälfte des Vorjahres ist aber auch ein Ansteigen der Arbeitslosigkeit und damit ein Sinken der Kaufkraft verbunden. Wenn nicht bald produktiv investiert wird, werden sich auch weniger Käufer für die Westwaren finden. Die Bonner Politiker jedoch wehren ab. Der Staat leiste mit Bürgschaften, Krediten und Investitionszulagen bereits genug. Außerdem müsse die D-Mark stabil bleiben, weswegen die Bundesbank den Geldumlauf auch im kommenden Jahr knapp hält.
Soziale Lage vor dem Crash
Nach Meinung der Politik müssten nun die Privaten ran. Diese aber zögern. Bonn erwartet für das kommende Jahr 2,5 Millionen Arbeitslose und Kurzarbeiter im Osten. Wissenschaftler und auch die Sachverständigen gehen von größeren Zahlen aus und führen stichhaltige Argumente ins Feld. 1991 werden Zehntausende ehemalige Staatsangestellte, gegenwärtig in der sogenannten Warteschleife, auf den Markt strömen. Mitte 91 läuft die großzügige Kurzarbeiterregelung aus, wonach die Betriebe momentan auch überflüssige Leute bei 90 Prozent des Lohnes behalten müssen. Außerdem wird die Treuhand, die bisher nur zögernd stilllegte, radikaler vorgehen. Weitere 1,4 Millionen Arbeitsplätze hängen vom Ostexport ab.
Die gewaltigen Unterschiede werden also auf absehbarer Zeit bestehen bleiben. Wie der bayerische Landeszentralbankchef Lothar Müller jüngst in einem Presseinterview sagte, verberge sich gerade hinter diesen Differenzen sozialer Zündstoff, der je den Moment hochgehen kann.
Uwe Rosenhahn
(Tribüne, Do. 20.12.1990)