Ab sofort ist der Betrieb besetzt. Alle Ein- und Ausgänge werden von der Belegschaft kontrolliert. Gestern Vormittag beschlossen das die Beschäftigten der Simson Fahrzeug GmbH Suhl. Es sollte ein Zeichen des öffentlichen Protestes gegen das bevorstehende "Aus" und eine Geschäftspolitik sein, die nach Meinung der Arbeitnehmer hinter verschlossenen Türen gemacht wird. In der vergangenen Woche meldete das traditionsreiche Moped-Unternehmen Konkurs an.
Simson bzw. das ehemalige Fahrzeug- und Jagdwaffenwerk Suhl war einer der Konsumgüter herstellenden Betriebe, die sich früher praktisch nie Sorgen um den Absatz machen brauchten. In den besten Jahren verließen rund 180 000 Mokicks und Motorroller die Suhler Hallen – 130 000 blieben im Inland, 50 000 gingen auf den RGW-Markt.
Es sind vergangene Zeiten. Mit der Währungsunion ging der Inlandabsatz schlagartig in den Keller. Seit der Jahresmitte konnten pro Monat nur noch um die 350, 400 dieser ehemals begehrten Stücke verkauft werden. Für 1991 existieren gegenwärtig Verträge über die Lieferung von genau 3 708 Zweiradfahrzeugen, sagte gestern Betriebsratsvorsitzender Klaus Brückner gegenüber der Berliner Zeitung. Das heißt im Klartext: Jeder der derzeit noch 3 428 Beschäftigten (ehemals über 4 000) kann im kommenden Jahr etwas mehr als ein Fahrzeug bauen. Nur wird er kaum mehr in die Verlegenheit geraten.
Massive Vorwürfe gibt es an die Geschäftsleitung. Der Betriebsrat hat überhaupt erst einen Tag vor der Konkursanmeldung erfahren, welche Produktion für 91 bisher vertraglich fixiert ist. Vorher habe der Arbeitgeber immer mit Zahlen operiert, die suggerieren sollten, es läuft weiter, sagt Klaus Brückner. Ein Sanierungskonzept habe auf einem Verkauf von 81 000 Fahrzeugen pro Jahr aufgebaut. Verträge gab es nie. Am Montag noch erhielt Brückner ein zehnseitiges Material, das mit 30 000 verkauften Mokicks rechnet - Verträge Fehlanzeige.
Die Simson Fahrzeug GmbH ist der größte Betrieb in der ehemaligen Bezirksstadt. Macht er vollends dicht, häuft sich sozialpolitischer Zündstoff an. Heute in einer Woche sind alle Landtagsabgeordneten und Bundestagsabgeordneten aus der Region zur Betriebsversammlung bei Simson eingeladen, um ihre Ansichten zur Zukunft der Zweiradproduzenten darzulegen. Der Konkurs läuft trotzdem.
Matthias Loke
(Berliner Zeitung, Mi. 12.12.1990)
Am Dienstag besetzten Beschäftigte der Suhler Simson GmbH die Tore zum Hauptwerk. ND erkundigte sich bei Günther Arnold, stellvertretender Betriebsratsvorsitzender, nach den Zielen dieser Aktion.
Warum die Besetzung?
Simson hat, wie kürzlich bekannt wurde, Konkurs angemeldet. Die Sanierungskonzepte, die vor gelegt wurden, haben alle nicht gegriffen, weil sie immer wieder auf dem Zweirad aufbauten. Damit hat unser Betrieb aber keine Zukunft Normalerweise haben wir im Jahr 180 000 Fahrzeuge produziert, für 1991 sind 3 708 Fahrzeuge bisher vertraglich gebunden.
Mit unserer Aktion wollen wir die Öffentlichkeit aufmerksam machen und verhindern, dass irgendetwas aus dem Betrieb weggebracht wird, was noch gebraucht wird. Die Konkursanmeldung bedeutet ja nicht, dass der Betrieb sofort zugemacht wird.
Wie kam es zu der Aktion?
Wir hatten eine Versammlung der Vertrauensleute und dort fiel spontan die Entscheidung, sofort die Toren zu besetzen.
Wie reagierte die Geschäftsleitung?
Sauer. Nach ihrer Ansicht habe ihr bislang die Zeit gefehlt, sich auf die Konkurssituation einzustellen. Wir sind der Meinung, sie hatte lange genug Zeit.
Zudem war von Kritik an der Geschäftsführung zu hören, sie habe nicht konsequent genug an der Sanierung gearbeitet.
Sie verfolgte monatelang nur die Strecke Kleinfahrzeuge, die aber für uns keine Chancen bringt. Das hat die Leitung inzwischen wohl auch eingesehen.
Beladenen Sattelschleppern wurde am Dienstag die Fahrt vom Werksgelände vorerst untersagt. Aber wie soll es weitergehen? Die Kontrolle an den Toren allein löst noch nicht die Probleme des Betriebes.
Der Betriebsrat hatte bereits nach der Konkursanmeldung seine Vorschläge unterbreitet Bildung von Arbeitsgruppen, die untersuchen, welche anderen Erzeugnisse gefertigt werden können. Außerdem sind auch die Politiker gefordert, die Bundes- und Landesregierung. Der Betrieb braucht eine Verschnaufpause, Zeit, um sich auf die neuen Bedingungen einzustellen. Auch von der Treuhand erwarten wir Unterstützung.
Wenn unser Betrieb zugrunde geht, dann stirbt die ganze Region. Einen Ausweich auf andere Arbeitsplätze gibt es hier nicht. Andere Firmen sind in der gleichen Lage. Simson Suhl ist erst der Anfang in einer Kette.
Fragen: KLAUS MORGENSTERN
(Neues Deutschland, Mi. 12.12.1990)