Up - Schöneberg. Rufe von Studenten und Dozenten, die gegen die Abwicklung der Hochschule für Ökonomie und einzelner Teilbereiche an der Humboldt-Universität protestieren, sind bis zum Bayrischen Platz zu hören. Sie haben Trommeln, Pfeifen, Flöten, Transparente mit zum Schöneberger Rathaus gebracht. Scheinwerfer strahlen die beiden Fenster an, hinter denen die Berliner Landesregierung ihre Sitzung abhält. Hier soll der Senat heute eine Vorlage der Wissenschaftssenatorin zu den abzuwickelnden Fachbereichen beschließen.
Tausende machen nun darauf aufmerksam, dass die Universitätsmitglieder in die Entscheidung, was mit ihren Professoren und Fachbereichen geschieht, einbezogen werden müssen. "Entmündigung durch den Staat Senat in schlechter DDR-Tradition", steht auf einem Transparent. "Gegen Intelligenzvernichtung im Osten", richtet sich ein anderes. Die Sprecher kommen aus dem ganzen Land. Beispielsweise schicken die Universitäten in Mecklenburg-Vorpommern Grüße. Rudolf Bahro ruft durch den Lautsprecher, dass es darauf ankäme, sich frei mit der Bewältigung der Vergangenheit und mit den nun anstehenden Zukunftsfragen auseinanderzusetzen. Im Gegensatz zu seinem Vorredner ist die Begeisterung der Versammelten zum Kommen Gregor Gysis geteilt. Er spricht hier, weil "ich denke, dass man mit uns nicht ganz so umspringen kann, wie mit den Einwohnern einer Kolonie".
Der Verband der Hochschullehrer warnt vor überstürzter Zerstörung wissenschaftlicher Einrichtungen der Humboldt-Universität. Er fordert Kriterien für die überprüfende Arbeit der Personalstrukturkommissionen. Auch die Wissenschaftler und Wissenschaftlerinnen aus West-Berlin beteiligen sich an der Diskussion um die Humboldt-Universität. Sie schreiben in ihrem offenen Brief: Die Pläne der Senatorin und des zuständigen Magistratsmitglieds sind rechtsstaatlich bedenklich, organisatorisch unproduktiv und politisch kurzsichtig. Im Gegensatz zur Senatsverwaltung würden die demokratischen Mitglieder der Humboldt-Universität ihre Pappenheimer ganz genau kennen.
Für die CDU spricht Herwig Haase. Die CDU "hält angesichts der mangelhaften Vorbereitung durch die zuständige Senatorin die vorgeschlagene Teilabwicklung einzelner Fachbereiche an der Humboldt-Universität für unvertretbar. Sie hätte die Zerschlagung der Fachbereiche zur Folge." Haase schlussfolgert, dass sich die Senatorin damit selbst den Weg zur Abwicklung verbaut hätte, die zur Neustrukturierung führen soll.
Wie aus den Koalitionsverhandlungen zu hören ist, will die CDU noch umfangreichere Abwicklungen erreichen.
(Neue Zeit, Mi. 19.12.1990)
Berlin. BZ – B. Fehrle Die Pläne des Senats über die "Abwicklung" einzelner Fakultäten der Humboldt-Universität gerieten gestern in den Strudel der Koalitionsverhandlungen im Schöneberger Rathaus. Weil die CDU ein Veto einlegte, musste die Entscheidung über die Zukunft der Rechts-, Wirtschafts- und Geschichtswissenschaften und über die Sektion Philosophie auf eine Sondersitzung am kommenden Sonnabend vertagt werden.
Vor dem Rathaus waren zur gleichen Zeit Tausende Studenten zusammengeströmt. Sie protestierten gegen Eingriffe in die Hochschul-Autonomie.
Nach den bisherigen Vorstellungen des Senats sollten die genannten Sektionen "abgewickelt" werden. Das sollte allerdings nicht bedeuten, dass die Planstellen und Studienplätze verloren gehen, erklärte Senatorin Riedmüller. Alle Stellen waren nach ihrer Vorstellung neu besetzt worden. Die CDU widersprach in der Koalitionsrunde und verlangte, die Bereiche zu überfuhren. Nach den Vorstellungen der Christdemokraten sollten dann im Einzelfall unerwünschte Professoren und Lehrbeauftragte entlassen werden.
Beide Parteien betonten, dass ihr Ziel die Erneuerung der Universität ist. "Wir sind uns in der Sache einig", sagte gestern CDU-Stadtrat Kny. Man wolle nur einen anderen Weg wählen.
Für andere Abteilungen der Humboldt-Universität konnte gestern allerdings eine Entscheidung getroffen werden. Aufgelöst werden der Studiengang Marxismus-Leninismus und das Fach Kriminalistik. Hier seien hauptsächlich Stasi-Mitarbeiter ausgebildet worden, sagte Frau Riedmüller.
Auch den Studiengang Wissenschaft-Organisation wird es in Zukunft nicht mehr geben. Gerettet wurde in buchstäblich letzter Minute das Fach Ästhetik und Kulturwissenschaften. Wie verlautete, wurde es auf Intervention von Innenstadtrat Krüger (SPD) von der Liste der abzuwickelnden Fachbereiche gestrichen.
Die Studenten, die jetzt um ihre Ausbildung bangen, will Senatorin Riedmüller beruhigen. Alle, die ein Studium begonnen hatten, könnten dies auch zu Ende bringen. Insgesamt werde die Zahl der Studienplätze in Berlin in den kommenden Jahren steigen.
Überführt wurden gestern auch die Hochschule für Ökonomie, die Ingenieurhochschule Lichtenberg, die Hochschule für Schauspielkunst "Ernst Busch", die Kunsthochschule und die Hochschule für Musik. Unklar, und darauf wies Senatorin Riedmüller besonders hin, sei bislang die Zukunft der über 40 Forschungsakademien. Nach ihrer Vorstellung sollte die Forschung wieder in die Universitäten zurückgeführt werden.
Weitere, bisher dem Ministerrat unterstellte Einrichtungen, die ihren Sitz in Berlin haben, werden zum Teil vom Bund, zum Teil von anderen östlichen Bundesländern übernommen. Dazu gehören auch die Akademie der Künste, das Staatliche Ballett und die Fachhochschule für Artistik.
Das Berliner Sinfonieorchester, das Sport- und Kongresszentrum Dynamo, das Erholungszentrum Friedrichshain und den Pionierpalast "Ernst Thälmann" werden mittelfristig aus der öffentlichen Verwaltung ausgegliedert und sollen in privater Trägerschaft weitergeführt werden.
Brigitte Fehrle
(Berliner Zeitung, Mi. 19.12.1990)
Derweil kam Bewegung in die Massen. Trotz des Wochenmarktes, der vorm Rathaus die Funktion eines Demo-Wellenbrechers erfüllte, strömten immer mehr Menschen auf den Platz. Am Mikrofon meldete sich ein Bundestagsabgeordneter zu Wort, der eine Farbe symbolisiert, die die Senatsverantwortlichen gar nicht gerne auf der Hochschulpalette sehen: Gregor Gysi. Seine Forderung, Gelder nicht für die Rüstung auszugeben, sondern für die Bildung, wurde von der Menge mitgetragen. Hingegen gingen die erklärenden Worte eines CDU-Abgeordneten nach seinem ersten Satz "Mein Name ist Haase..." im Stimmengewirr unter.
Nicht wissen oder nicht wissen wollen, eine gute Frage. Derweil die Wissenschaftsverwaltung verlauten ließ, zwar die Humboldt-Uni als Ganzes übernehmen, aber wichtige Teileinrichtungen wie die Bereiche Rechts- und Wirtschaftswissenschaften, Geschichte, Philosophie und Kulturwissenschaften "abwickeln" zu wollen, steht für die Betroffenen die Wahrung rechtsstaatlicher Prinzipien zur Disposition. Denn die Humboldt-Uni wurde durch das Berliner Mantelgesetz bereits "überführt". Die vorgesehene "Abwicklung" von Fachbereichen und Fakultäten unterläuft zudem den Einigungsvertrag, da Lehre und Forschung in den Institutionen fortgeführt werden. Auch wird die „Freiheit von Forschung und Wissenschaft", per Grundgesetz verbrieft, durch die ideologische Gängelung von oben in Frage gestellt. Die personelle Erneuerung der HUB, deren Notwendigkeit unumstritten ist, soll oktroyiert, das Mitspracherecht der Betroffenen und ihrer demokratisch gewählten Gremien ausgeräumt werden. Gegenteilige Beteuerungen der Wissenschaftssenatorin zeigen, dass man das "Abwickeln" verschieden interpretiert. Es kommt jedoch darauf an, etwas zu verändern. Auf rechtsstaatlicher und demokratischer Grundlage, und nicht anders.
Andrea Scheuring
(Berliner Zeitung, Mi. 19.12.1990)