Berlin (ND-Malik). Etwa 200 000 bis 250 000 Arbeitnehmer aus ehemaligen staatlichen Verwaltungen und den nachgeordneten Einrichtungen befinden sich derzeit in der sogenannten Warteschleife. Das bedeutet, das Arbeitsverhältnis der Betroffenen ruht, sie erhalten ein Bruttogehalt von 70 Prozent, von dem noch einmal etwa 25 Prozent für Steuern und Versicherungen abgehen. Nach sechs bzw. neun Monaten erwartet sie dann die Kündigung.
Wie Dr. Klaus Grehn, Präsident des Arbeitslosenverbandes (ALV), am Montag in Berlin mitteilte, hat der ALV namhafte Rechtsanwälte beauftragt, Verfassungsbeschwerde gegen diese im Einigungsvertrag festgeschriebene Regelung einzulegen. Sie verstoße gegen Artikel 1, 2, 3, 12, 14 und 20 des Grundgesetzes der Bundesrepublik Deutschland. Das Bundesverfassungsgericht soll prüfen, ob die Regelung im Einigungsvertrag nichtig ist. Damit dürften die Arbeitsverhältnisse der Beschwerdeführer nicht nur nicht ruhen, sondern müssten auch nach der Wartezeit unverändert fortbestehen.
Der Auffassung bestimmter Kreise, dass der Einigungsvertrag ein Jahrhundertvertrag sei, könne man nur insofern zustimmen, als es in diesem Jahrhundert wohl kaum einen Vertrag gab, der in so großer Breite angreifbar sei, sagte Grehn. Zudem setzte dieser Vertrag auch für das Recht in anderen Bereichen Signale.
Den von der Warteschleife betroffenen Arbeitnehmern werde jeder Rechtsschutz genommen. Sie könnten nicht einmal ihre vertraglichen Ansprüche gegen die DDR geltend machen. Bereits das Fehlen einer solchen Rechtsschutzmöglichkeit sei verfassungswidrig.
Das gelte um so mehr, so Dr. Grehn, als diesen Bürgern zum Teil völlig abstruse Angebote unterbreitet worden seien. Als Beispiel nannte er den Fall eines international anerkannten Wissenschaftlers auf dem Gebiet der Arbeitsmedizin, dem das Ministerium für Arbeit und Sozialordnung empfahl, er möge die Warteschleife für eine Umschulung nutzen.
Gemäß Artikel 23 Absatz 6 des Einigungsvertrages übernimmt die Bundesrepublik Deutschland die Bürgschaften, Garantien und Gewährleistungen der DDR. Es sei nicht nachvollziehbar, weshalb für Arbeitsverträge eine Ausnahme gelten solle. Der Dreierrat des Bundesverfassungsgerichtes hat inzwischen der Beschwerde stattgegeben, so dass diese voraussichtlich im März zur Verhandlung anstehe.
Weil sich zunehmend weitere Einrichtungen der Warteschleife bedienen, um Entlassungen zu begründen, fordert der Arbeitslosenverband die betroffenen Bürger auf, sich der Verfassungsbeschwerde anzuschließen.
(Neues Deutschland, Do. 20.12.1990)
Artikel 23 Absatz 6 des Einigungsvertrages: "(6) Die Bundesrepublik Deutschland tritt mit Wirksamwerden des Beitritts in die von der Deutschen Demokratischen Republik zu Lasten des Staatshaushalts bis zur Einigung übernommenen Bürgschaften, Garantien und Gewährleistungen ein. Die in Artikel 1 Abs. 1 genannten Länder und das Land Berlin für den Teil, in dem das Grundgesetz bisher nicht galt, übernehmen für die auf die Bundesrepublik Deutschland übergegangenen Bürgschaften, Garantien und Gewährleistungen gesamtschuldnerisch eine Rückbürgschaft in Höhe von 50 vom Hundert. Die Schadensbeträge werden zwischen den Ländern im Verhältnis ihrer Einwohnerzahl zum Zeitpunkt des Wirksamwerdens des Beitritts ohne Berücksichtigung der Einwohnerzahl von Berlin (West) aufgeteilt."
Pünktlich um 10 Uhr verkündete gestern der Präsident des Bundesverfassungsgerichts in Karlsruhe das Urteil in dem Verfahren über die Verfassungsbeschwerde gegen die Warteschleifenregelung, wie sie im Einigungsvertrag getroffen wurde. Wenn der Urteilsspruch auch erwartet worden war, so herrschte doch beklommene Stille, als Roman Herzog sagte: Die Verfassungsbeschwerde wird zurückgewiesen.
Im Verlauf der Begründung des Urteils wurde deutlich, dass diese Entscheidung wesentliche Teillösungen enthält, die günstig für die Betroffenen sind. Nach dieser zwar nur eine halbe Stunde dauernden, jedoch wegweisenden Verkündung des Urteils drängten sich Journalisten um die Regierungsvertreter, aber vor allem auch um den Anwalt der Betroffenen, Johannes Zindel, und den Präsidenten des Arbeitslosenverbandes Deutschlands, Dr. Klaus Grehn.
Hohe Anforderungen an den Arbeitslosenverband
Grehn verwies darauf, dass jetzt viel Arbeit auf den Arbeitslosenverband zukäme, ebenso aber auch große Anforderungen an die Betroffenen, selbst aktiv zu werden, um im Rahmen der nunmehr abgesteckten Möglichkeiten ihre Rechte einzufordern. In einem Gespräch mit der Berliner Zeitung hatte auch das Mitglied des Ersten Senats, Richter Dr. Kühling, darauf aufmerksam gemacht, dass all jene, die zu Unrecht in die Warteschleife geschickt worden sind, von der Möglichkeit der Klage vor dem zuständigen Arbeits- oder Verwaltungsgericht Gebrauch machen müssten. Es ist anzunehmen, dass jetzt genau das eintritt, was eigentlich verhindert werden sollte: Eine Flut von Arbeitsrechtsstreitigkeiten, die entweder vor den Arbeitsgerichten oder vor den Verwaltungsgerichten auszutragen sind.
Gerechtigkeit immerhin für Mutter und Schwangere
Gegenüber der Berliner Zeitung bewertete Dr. Klaus Grehn diese Karlsruher Entscheidung als über einen Teilerfolg hinausgehend. Abgesehen davon, dass den alleinerziehenden Muttern und Schwangeren Gerechtigkeit widerfahren ist, indem ihnen der Arbeitsplatz erhalten bleibt und die ausgefallenen Gelder nachgezahlt werden müssen, sei das gravierendste, dass das Urteil und damit das Bundesverfassungsgericht eine völlig andere Interpretation des Einigungsvertrages vorgenommen habe, als sie durch die Realisierung dieser Regelung bisher üblich war.
So besteht die Fürsorgepflicht gegenüber Schwerbehinderten in der vorrangigen Berücksichtigung bei der Vergabe von Arbeitsplätzen, aber auch die Verpflichtung von Bund, Länderregierung oder Kommunen hinsichtlich Weiterbildungs- und Arbeitsbeschaffungsmaßnahmen über den Zeitpunkt des Ablaufs der Warteschleife hinaus.
Dennoch, betonte Dr. Klaus Grehn, bei aller Wertschätzung des um Sachlichkeit und Objektivität bemühten Bundesverfassungsgerichts, hatte die im Urteil getroffene Aussage über die Verfassungskonformität der Warteschleifenregelung nicht überzeugt und ebenfalls nicht die Feststellung, dass es unmöglich war, die Arbeitsverhältnisse der im öffentlichen Dienst Tätigen ordnungsgemäß zu beenden.
Im Gegensatz zu ordnungsgemäßen Kündigungen kann das per Warteschleife auslaufende Arbeitsverhältnis (die letzten werden bis Anfang Juli beendet sein) nicht auf dem Rechtsweg überprüft werden. Anders als Arbeitnehmer der gewerblichen Wirtschaft können Betroffene also keinen Kündigungsschutz geltend machen. Es bleibt demnach nur - wie es Gewerkschaftsvertreter formulierten - der Sturz in das "steile Fallrohr der Arbeitslosigkeit".
Kritik an Interpretation des Einigungsvertrages
Die Gewerkschaft ÖTV hatte bereits im März darauf verwiesen, dass die Regelungen des Einigungsvertrages über den Wartestand auch missbraucht worden seien. So hätte es zum Beispiel ungerechtfertigt befristet abgeschlossene Arbeitsverträge gegeben beziehungsweise Versetzungen in die Warteschleife, als ehemalige DDR-Einrichtungen in Verwaltungen der neuen Länder oder des Bundes überführt wurden.
Notwendig wird jetzt also eine umfassende Aufklärungsarbeit hinsichtlich der sich aus dem jüngsten Karlsruher Urteil ergebenden Rechte der Betroffenen, deren Aktivität natürlich ebenfalls gefordert ist.
Von unserem Redaktionsmitglied Ruth Eberhardt
(Berliner Zeitung, Do. 25.04.1991)
Von der Warteschleiferegelung Betroffene sind jetzt mehr denn je gefordert, sich zu engagieren, Ansprüche anzumelden oder notfalls vor Gericht zu gehen, um ihre Rechte einzuklagen.
Resignation sei jetzt fehl am Platze, hatte Dr. Klaus Grehn, Präsident des Arbeitslosenverbandes Deutschland, am Mittwochabend zum Abschluss einer mehrstündigen Aussprache zum Karlsruher Urteil im Haus am Köllnischen Park in Berlin nachdrücklich gefordert. Gemeinsam mit den Rechtsanwälten Johannes Zindel aus Frankfurt am Main und Dr. Peter Heikenberg aus Berlin-Neukölln, die Hunderte Betroffene vor Gericht vertreten, wurden an diesem Abend wichtige Informationen vermittelt, wie die "Warteschleifler" die ihnen durch das Urteil des Bundesverfassungsgerichts zustehenden Rechte einfordern und durchsetzen können.
Es wurde auch mit großer Genugtuung die Erläuterung von Anwalt Zindel aufgenommen, dass das Karlsruher Urteil mehr als ein Teilerfolg ist. Immerhin gehören 90 Prozent der Beschwerdeführer zu den Siegern. Es sind jene, deren Einrichtungen "abgewickelt" wurden, faktisch aber weiterbestehen, sei es als GmbH oder in anderer Form. Als typische Beispiele dafür nannte der Anwalt den Tierpark, den Friedrich-Stadtpalast, das Tanzensemble Berlin und die Universitäten.
Die Übertragung vom öffentlich-rechtlichen in das zivilrechtliche Gewand reiche jedoch nicht aus, die Mitarbeiter in die Warteschleife zu schicken. Nach dem Karlsruher Urteil aber sind von der Warteschleifenregelung real nur jene betroffen, deren Einrichtung zu Recht abgewickelt wurde, wozu zum Beispiel der Palast der Republik als Einrichtung gehört, da ihn die Bundesregierung nicht übernommen hat.
Somit hat also das Gericht die Warteschleiferegelung sehr eng ausgelegt, was eine Abweisung der Verfassungsbeschwerde zur Folge haben muss. Damit wurde deutlich, dass Konsequenzen aus dem Urteil nicht allein aus dessen Tenor, also der Aussage, dass die Beschwerde abgewiesen wird, abzulesen sind. (Über die Schritte, die Betroffene unternehmen können, informieren wir auf unserer nächsten Seite RECHT UND GESETZ am 15. Mai.)
Während diese Information mit Beifall aufgenommen wurde, gingen die Ausführungen eines FDP-Abgeordneten, der sich für die Abwicklung der Humboldt-Universität aussprach und das Fach "Politische Ökonomie" als "Pseudo-Wissenschaft" bezeichnete, in einem tumultartigen Protest unter.
Von unserem Redaktionsmitglied Ruth Eberhardt
(Berliner Zeitung, Fr. 10.05.1991)