Suhl (ADN/ND). Die Konkursanmeldung der Suhler Simson Fahrzeug GmbH sei durch die Suhler Treuhand vorläufig zurückgenommen worden, nachdem etwa 2 000 Werksangehörige am Donnerstag vor der Treuhand-Niederlassung protestiert hatten. Das teilte der Betriebsrat mit. Die von Massenentlassung bedrohten Simson-Hersteller forderten während einer Protestaktion durch die Suhler Innenstadt von der Treuhand Klarheit. Deren Chef versprach, für die zügige Bereitstellung eines Millionen-Kredits zu sorgen.
(Neues Deutschland, Fr. 14.12.1990)
Suhl (ND-Morgenstern). Die am Dienstag begonnene Besetzung des Hauptwerkes der Simon Fahrzeug GmbH Suhl zeigte bereits am Mittwoch eine erste Wirkung. Wie ND vorn Betriebsratsvorsitzenden Klaus Brückner erfuhr, ist er für den heutigen Donnerstag zusammen mit dem Geschäftsführer nach Berlin in die Treuhandstelle zu einem Gespräch über die Zukunft des Betriebes eingeladen. Bislang sei es äußerst schwierig gewesen, einen Termin bei der Treuhand zu bekommen.
Am Donnerstagmorgen findet eine Belegschaftsversammlung statt, auf der alle Betriebsangehörigen über die Lage der Firma informiert werden. Die Betriebstore werden weiterhin kontrolliert, so dass die Gewerkschafter genau über alle Transporte im Bilde sind.
Im Laufe des Donnerstages geht das letzte Mokick der Produktion von 1990 vom Band. Anschließend ist für rund 2 800 Arbeitnehmer Null-Stunden-Kurzarbeit angesagt. Die Produktion soll erst wieder im Januar aufgenommen werden. So sieht es eine Vereinbarung des Betriebsrates mit der Geschäftsleitung vor.
(Neues Deutschland, Do. 13.12.1990)
"Das kann doch nicht wahr sein!" Regina Schmidt, die gemeinsam mit einigen Kollegen an den Toren des Hauptwerkes der Simson-Fahrzeug GmbH die Eingänge kontrolliert, damit nichts aus dem unlängst mit Konkurs bedrohten Betrieb auf unrechtmäßigen Wege verschwindet, verschlägt es fast die Sprache. Ein holländischer Laster, der am Dienstag gegen 15.30 Uhr 50 Kleinkrafträder abholen will, soll wieder weggeschickt werden. Dabei zählt für den tief in den roten Zahlen steckenden Betrieb jedes verkaufte Fahrzeug. Laxe Antwort aus einem Büro vom Absatz: Der Fahrer möge doch am nächsten Morgen 9 Uhr wiederkommen.
Die resolute Disponentin greift selbst zum Hörer und telefoniert so lange, bis sie bei der Geschäftsleitung landet. Einige Zeit später fährt der Holländer mit den Mokicks vorn Hof.
So wie Regina Schmidt stecken viele der 3 500 Beschäftigten des Suhler Betriebes nicht einfach auf, obwohl die Lage der GmbH alles andere als beneidenswert ist. Rund 80 Millionen DM Schulden stehen in den Geschäftsbüchern. Die Besetzung der Werktore, die vor Tagen für Schlagzeilen sorgte, war wohl die spektakulärste, aber bei weiten nicht die einzige Aktion von Belegschaft und Betriebsrat, den Betrieb zu retten.
Betriebsratsvorsitzender Klaus Brückner (45) zieht eine Kopie vom Flächenplan des Werksgeländes aus der Tasche. "Hier im Westteil, lauter freies Gelände, nahezu ideal für Gewerbeansiedlungen. Stromanschluss, Abwasser, alles schon vorhanden." Auch ein Platz, auf dem die Kleinkraftradproduktion konzentriert werden könnte, natürlich technologisch umgestaltet, ist schon eingezeichnet. Der stämmige Suhler kann sich nicht vorstellen, dass die rund 90jährige Tradition von Simson 1991 einfach enden soll. Für ihn wäre es auch der Strich unter ein Kapitel Familiengeschichte. Schon der Großvater stand hier in Lohn und Brot.
Und doch schien das Ende bedrohlich nahe. Am 6. Dezember nach einer Sitzung des Aufsichtsrates, in der die Geschäftsleitung eine schier ausweglose Situation schildert, beantragen die Geschäftsführer beim Gericht das Konkursverfahren. Einen Tag später hält sich schon der Sequester im Betrieb auf. Die Besetzung durch die Belegschaft erwirkt den bitter nötigen Termin in der Treuhandanstalt am Berliner Alexanderplatz.
Klaus Brückner bringt einen Teilerfolg mit nach Thüringen: Ein fälliger Kredit wird zurückgestellt. Damit ist die Zahlungsunfähigkeit zumindest vorübergehend aufgeschoben. Am 14. Dezember, dem Tag, da die Geschäftsführung den Konkursantrag wieder zurückzieht, hat der Betriebsratsvorsitzende Geburtstag. Zeit zur Besinnlichkeit indes bleibt an diesem Tag so wenig wie an den übrigen Tagen vor Weihnachten. Die Entscheidung der Treuhand bringt nur eine Atempause, mehr nicht. Mit jedem Tag handelt sich die Simson-Fahrzeug GmbH, ob sie produziert oder nicht, neue Schulden ein.
So machen Betriebsrat und IG Metall weiter Druck. Auf einer Belegschaftsversammlung in der Suhler Stadthalle fallen bittere, aber auch energische Worte. Aus gutem Grund waren auch der Oberbürgermeister und Vertreter von Thüringer Landesverbänden der Parteien geladen worden.
Der Bankrott von Simson hätte wie ein großer Kahlschlag im Thüringer Wald verheerende Folgen für die gesamte Region. Neben den 3 500 Fahrzeugwerkern hängen weitere 3 000 Arbeiter in der Zulieferproduktion von Simson ab. Wenig Hoffnung besteht darauf, in Suhl und Umgegend andere Arbeit zu finden. Zumal die wenigen weiteren Betriebe, wie das Elektrogerätewerk Suhl, keinen Deut besser dran sind. Die Jungen und die versierten Fachkräfte werden ihr Glück in Hessen oder Bayern suchen. Die ohnehin nicht gerade begnadete Südthüringer Region droht auszubluten. Aus diesem Grund will die PDS - so die Thüringer Landesvorsitzende Gabi Zimmer -‚ dass sich der Landtag auf einer vorgezogenen Sitzung damit befasst.
In einer Entwicklungsgesellschaft mit regionalen Charakter sieht Erwin Peter-Winter (41) einen möglichen Ausweg. Der aus dem Hessischen stammende IG-Metaller steht seit Juli Gewerkschaftern und Betriebsräten in der Metallindustrie zur Seite. Vielleicht bleibt er für längere Zeit in Thüringen. Selbst schon zweimal arbeitslos gewesen, möchte er mithelfen zu verhindern, dass Arbeitslosigkeit zum massenhaften Schicksal wird. Klaus Brückner, der nicht so schnell aus der Ruhe zu bringen ist, zeigt sich sichtlich erleichtert über diese Unterstützung. Von den hiesigen Gewerkschaftern fühlt er sich allein gelassen.
Die Chancen für die Entwicklungsgesellschaft, die zum Beispiel Altlastensanierung auf dem Werksgelände betreiben könnte, stehen gar nicht so schlecht. In einer weiteren Beratung in der Treuhandstelle vergangene Woche erhält der Betriebsratsvorsitzende die Zusicherung, dass die Finanzierung gemeinsam mit der zentralen Arbeitsverwaltung geprüft werde. Alle vorliegenden Bestellungen für Simson-Kleinkrafträder arbeitet der Betrieb ab. Die Kosten dafür sollen so schnell wie möglich runter. Arbeitsgruppen prüfen, welche anderen Erzeugnisse dem Betrieb mehr Zukunft bieten. Klaus Brückner sieht in Baugruppen für die Automobilindustrie eine Chance.
Klaus Morgenstern
(Neues Deutschland, Mo. 24.12.1990)