Der amtierende Justizminister Walther hatte gestern Geburtstag. Dass es für ihn auch ein Freudentag war, ist zu bezweifeln. Zu heftig waren die Reaktionen auf seinen Fernsehauftritt am Sonnabend. Immerhin wird ihm mit seinem generalisierenden "Nein" zur Amnestie, seiner Auffassung, es gebe in der DDR keine politischen Strafgefangenen mehr, die Zuspitzung der Situation in den DDR-Haftanstalten zugeschrieben. Waren es zu Anfang nur einige wenige Häftlinge, die auf die Dächer ihrer Verwahranstalten stiegen, schlossen sich ihnen nach der Walther-Rede zahlreiche weitere an. Inzwischen sind über 20 der, 36 Haftanstalten von Besetzungen und Hungerstreiks betroffen.
In Bützow (Bezirk Schwerin) sind zur Zeit etwa 160 Strafgefangene untergebracht. Neun von ihnen sitzen auf dem Dach. Die anderen haben sich mit ahnen solidarisiert. Wie der amtierende Leiter der Einrichtung, Rudolf Kämpfe, mir sagte, sei die Schmerzgrenze für die Einsitzenden erreicht. Zwar würden sie jegliche Gewaltanwendung ablehnen (dies erwarten sie auch von den Strafvollzugsbeamten), doch die Situation sei sehr gespannt. "Das ist kein Wunder, so wie die hingehalten werden", meint Rudolf Kämpfe. Was nutzen die zahlreichen Kommissionen, wenn für die Inhaftierten nichts herauskommt?" fragt er besorgt. Erst Anfang Juli hatte hier eine Kommission der Bezirksstaatsanwaltschaft Schwerin festgestellt, dass eine Reihe von Urteilen zu hoch sind. Doch getan hat sich nichts. Auch die Gnadengesuche an die Volkskammerpräsidentin wurden, so Herr Kämpfe, wenn überhaupt, sehr schleppend bearbeitet.
Gleiches bestätigte Udo John, Leiter der Strafvollzugsanstalt Brandenburg: "Teilweise haben Insassen auf ihr Gnadengesuch zwar acht Zwischenbescheide, aber nichts Endgültiges erhalten. Die Gefangenen setzen hohe Erwartungen in die Regierung. Wenn ihre Forderungen nicht erfüllt werden, wird die Lage sich weiter zuspitzen. Gewaltanwendung schließe ich da nicht mehr aus."
Udo Jahn, der sich bereits seit Jahren für eine Humanisierung des DDR-Strafvollzugs einsetzt, hält die Forderung der Gefangenen nach Überprüfung aller Urteile für berechtigt. Er könnte sich außerdem eine modifizierte Amnestie vorstellen. "Wenn beispielsweise alle Strafen um zwei bis drei Jahre herabgesetzt und bei Lebenslänglichen differenziert entschieden würde, hätten die Gefangenen das Gefühl, dass man sie nicht vergisst. Von meinen 1 015 Häftlingen beträfe das beispielsweise 34, die anstatt 1992 und 48, die anstatt 1993 schon jetzt auf freien Fuß kommen würden. Bei den Lebenslänglichen wären es 45, die Ende 1990 15 Jahre Freiheitsentzug verwirklicht hätten", meint Udo Jahn.
Damit entkräftet er zugleich das Argument von Staatssekretär Reinhard Nissel (Ministerium für Justiz), dass man schließlich die Bevölkerung schützen müsse und eine Amnestie nicht in Frage komme. Er sprach sich gegenüber Junge Welt genauso ablehnend aus wie sein Minister. Doch immerhin bestätigte der Staatssekretär: "Es gibt noch immer Leute, die aufgrund sogenannter Mischdelikte - also wegen einer politischen und kriminellen Straftat - verurteilt wurden und einsitzen. Wir bilden gemeinsam mit dem Generalstaatsanwalt und dem Ministerium für Innere Angelegenheiten Kommissionen, die diese Urteile, und nur diese, noch mal überprüfen. Das heißt aber noch lange nicht, dass die Betreffenden dann auf freien Fuß kommen."
In der DDR würden derzeit nur noch etwa 4 200 Verurteilte im Strafvollzug sitzen. Und das, so Staatssekretär Nissel salopp, wäre größtenteils der "harte Kern". Dabei zieht er Gnadengesuche aus einer Mappe - von einem Kindermörder, einem Sexualverbrecher . . . "Die kann man doch nicht einfach auf freien Fuß setzen!" sagt er empört. "Zumal eine Amnestie zwar formal Sache des amtierenden Staatsoberhauptes wäre, aber in Anbetracht dessen, dass wir in einer Woche den 3. Oktober schreiben, die Auswirkungen die gesamte Bundesrepublik Deutschland zu tragen hätte."
Schließlich wäre es ja nicht allein damit getan, alle auf freien Fuß zu setzen. Fragen der Wiedereingliederung, der Arbeitsbeschaffung müssten geklärt werden. Diese Entscheidung könne nicht jemand treffen, der hinterher mit der Verwirklichung nichts mehr zu tun hätte.
Beide deutsche Regierungen, so Sprecherin Angela Merkel, würden eine schnelle und friedliche Lösung anstreben. Zu diesem Zweck soll umgehend ein ost-west-deutscher Ausschuss gebildet werden, der sich mit den sogenannten Mischdelikten beschäftigt. Allen anderen Verurteilten würde es frei stehen, einen entsprechenden Antrag auf Strafmilderung bzw. -änderung zu stellen. Eine Amnestie wurde in Regierungskreisen nicht favorisiert, merkte sie an.
Am Abend beschäftigte sich auch das Präsidium der Volkskammer mit den Forderungen der Gefangenen.
(Junge Welt, Di. 25.09.1990)