Auflösungsstimmung im DTSB-Bundesvorstand, dessen Reihen bei seiner 4. Tagung am Sonnabend in Kienbaum unübersehbar deutlich gelichtet waren. Tatsächlich aber will er erst am 5. Dezember in Berlin auseinandergehen, womit sich dann ein 42 Jahre dauerndes Kapitel erledigt hat. Trotzdem - so DTSB-Präsident Martin Kilian - sei es kein Scherbenhaufen, der übergeben wird. Trotz enormer finanzieller Schwierigkeiten konnte der Sportbetrieb in der Mehrzahl der Gemeinschaften, die sich zumeist inzwischen in Vereine umgebildet haben, aufrechterhalten werden, und das Auftreten der DDR-Leistungssportler hat möglicherweise manchen zu guter Letzt auf diese kleine, verwelkende Republik noch einmal stolz gemacht. Bei Welt- und Europameisterschaften wurden 1990 noch einmal 120 Medaillen gewonnen, darunter 35 Titel.
Das Übergabeprotokoll verzeichnet nunmehr 2,6 Millionen DTSB-Mitglieder in 16 130 Grundorganisationen mit 35 800 Sektionen und rund 10 000 allgemeinen Sportgruppen. Außerdem werden in den gesamtdeutschen Sport 152 000 Übungsleiter und mehr als 100 000 Kampf- und Schiedsrichter eingebracht. Die meisten Organisierten gibt es in Sachsen mit 600 000 Mitgliedern. Als nunmehr wichtigsten Schritt bezeichnete Kilian die Gründung von Landessportbünden, deren fünf am 26. Oktober in Hannover formell die Aufnahme in den Deutschen Sportbund (DSB) beantragen sollen. Mit dem offiziellen Beitritt ist dann auf dem Bundestag am 15./16. Dezember an gleicher Stelle - der DSB wurde vierzig Jahre zuvor in Hannover gegründet - zu rechnen.
Vor einer Woche wurde in Brandenburg bereits ein Landessportbund ins Leben gerufen, dessen Vorsitzender, der kraftvolle Potsdamer Mathe-Professor Gerhard Junghänel, in der Diskussion den Eindruck hinterließ, als würde er sich bei dieser Art deutscher Vereinigung wohl kaum über den Tisch ziehen lassen. Die vier anderen LSB-Gründungen sollen am nächsten Wochenende erfolgen, während die Berliner Fusion - der Osten bringt immerhin 170 000 Mitglieder ein - am 30. November vor sich gehen soll. Die Armee- und Polizeisportvereine werden in den nächsten Wochen in zivile Vereine umgestaltet, und als kompliziert gilt insbesondere die Umstellung von überwiegend hauptamtlicher Tätigkeit auf ehrenamtliche Arbeit. Befürchtet werden dabei Verluste mit Dauerwirkung.
Eine Zukunft gibt der DTSB-Präsident den Sportschulen, die - zumeist in neuen Eigentumsformen - dem Sport erhalten bleiben sollen. Wie allerdings ein Pausengespräch mit dem Kienbaum-Direktor Gert Barthelmes ergab, scheint manche dieser Prognosen recht blauäugig getroffen. Die wohl bekannteste DTSB-Sportschule - 38 km nahe Berlin gelegen - soll beispielsweise kommerzialisiert werden, d. h. der Rehabilitierung dienen. Wie aber diese Anlage gleichzeitig dem Leistungssport erhalten bleiben soll, gilt allen Beteiligten als Rätsel. Wenn nicht ein Wunder geschieht, ist Kienbaum nächste Woche mehr oder weniger verkauft.
Ebenso nur in den Sternen kann man die Zukunft des Sportmedizinischen Dienstes (SMD) und der Kinder- und Jugendsportschulen (KJS) der heutigen DDR ablesen. OMR Dr. Dietrich Hannemann teilte mit, dass der SMD in seiner bisherigen Form nicht mehr fortgeführt werden kann, eine sportmedizinische Beratung aber als Bestandteil des öffentlichen Gesundheitswesens garantiert werden soll. Einrichtungen der SMD werden in die Hoheit der Kommunen überführt. Auf Länderebene wird schließlich auch über die KJS, die sich nunmehr "Spezialschulen Sport" nennen, entschieden. Wie Staatssekretär Dr. Horst Iske, der die Grüße von Ministerin Cordula Schubert (sie kämpfte inzwischen in Portugal für die Interessen der DDR) überbrachte, mitteilte, gäbe es offensichtlich bei den neu entstehenden fünf (Ost-)Ländern durchweg Zustimmung, diese bewährten Einrichtungen der Nachwuchssportentwicklung zu erhalten.
Dagegen ist es bislang nicht gelungen, von Bonn gültige Aussagen über die zu gründenden Olympia-beziehungsweise Landesstützpunkte zu erhalten. Martin Kilian erwartet vom Bundesausschuss Leistungssport (BA-L) bei dessen Tagung am 1. Oktober zudem definitive Zusagen, wie viel DDR-Trainer übernommen werden können. "Die bisher bekannten Zahlen müssen deutlich erhöht werden", verlangte der DTSB-Präsident. Finanzgeschäftsführer Wolfgang Funcke bilanzierte, dass der DDR-Sport im ersten Halbjahr 243,5 Millionen DDR-Mark - davon 192,9 Millionen aus staatlichen Zuwendungen - erhalten hat. Als Plangröße für die letzten sechs Monate seines Bestehens sollen dem DTSB nunmehr nur noch 103 Millionen DM zur Verfügung stehen, von denen für den eigentlichen praktischen Sport ganze 4,7 Millionen verwendet werden können. Der Rest reicht nicht einmal aus, um den zu Tausenden entlassenen DTSB-Mitarbeitern die gesetzlich zustehenden Abfindungen zahlen zu können. Als um so dankbarer wird es empfunden, dass das DDR-NOK zwei Millionen DM aus dem "Olympia-Fonds" für die Aufrechterhaltung des olympischen Sportbetriebes zur Verfügung stellte.
Der Finanzchef des Ministeriums für Jugend und Sport Bernd Hermann räumte in diesem Zusammenhang Irritationen aus, die durch die parallele Veröffentlichung aus Berlin und Bonn entstanden waren und die, da beide dasselbe Sportsicherungsprogramm zum Thema hatten, den Eindruck erwecken mussten, als würde der DDR-Sport dank Bonner „Finanzspritzen“ nur so im Geld schwimmen. Dem ist – leider! - nicht so, im Gegenteil.
Kurz vor Toresschluss wurden noch zwei neue Verbände in den DTSB aufgenommen: Erstens der Rad-und Kraftfahrerbund "Solidarität" (Präsident Heinz Baumert, Erfurt) und zweitens der Deutsche Wandersport-Verband (Präsident Werner Harder, Rostock). Das Aufnahmegesuch des "Unabhängigen Verbandes für ganzheitliche Fitness e. V. der DDR" wurde abgelehnt.
Volker Kluge
(Junge Welt, Mo. 24.09.1990)