"Gegen die Einverleibung der DDR - für ein selbstbestimmtes Leben", unter diesem Motto stand am Sonnabend die erste gemeinsame und in der DDR-Geschichte letzte Großdemonstration von Bürgerinnen aus beiden Teilen Berlins. Mehrere tausend Frauen und Männer zogen vom Mehringplatz kommend durch die City zum Lustgarten, um ihren Unmut über Entscheidungen der Herren "Wiedervereiniger" in Bonn und Ostberlin Luft sowie ihre Forderungen öffentlich zu machen.
Jedoch konnte man sich trotz der zu Samba-Rhythmen tanzenden, ausgelassenen Menschenmenge des Gefühls der Resignation, Hilflosigkeit und doch unterschwelligen Wut nicht erwehren. In Sprechchören wie "Einig Deutschland, Schwanz ab!" und "Wir sind Frauen, wir sind viele, und wir haben die Schnauze voll" mischte sich auch so manche männliche Stimme.
Und so verwunderte es wohl niemanden, als Christiane Schindler vom Unabhängigen Frauenverband auf der Abschlusskundgebung feststellte, dass man/frau hier und heute zu keiner ausschließlichen Frauendemo, sondern zur ersten gemeinsamen Willensbekundung Oppositioneller aus beiden Teilen Deutschlands zusammengekommen sei. Rednerinnen von den Grünen aus Ost und West, der Vereinigten Linken, PDS, der ÖTV, IG Medien und "Frauen gegen den 218" forderten die sofortige ersatzlose Streichung der Paragraphen 218 und 175 aus der bundesdeutschen Gesetzgebung sowie die wirkliche Gleichstellung von Frau und Mann.
Barbara Ritter von "Frauen gegen den § 218": "Bereits im ersten Staatsvertrag wollten die bundesdeutschen Wiedervereiniger den Paragraphen 218 als gesamtdeutsches Abtreibungsunrecht durchsetzen. Ohne Widerrede hätten sie am liebsten gehabt, stillschweigende Übernahme, so ähnlich wie sie den Homosexuellen-Paragraphen 175 durchziehen wollen. Nichts macht den Eroberungsfeldzug deutlicher als die bedingungslose Unterwerfung der Frauen: Ab sofort kontrolliert Bonn die gesamtdeutsche Gebärmutter." Claudia Walther vom Juso-Bundesvorstand meinte angesichts der katastrophalen Ausbildungssituation für Schulabgänger, dass es "der blanke Hohn sei, von gestiegenen Zukunftschancen für Mädchen und junge Frauen zu reden".
Hatte noch im Vorfeld der Demonstration der Berliner CDU-Generalsekretär Klaus Landowsky diese als "schäbig gegenüber der großen Mehrheit der Deutschen in der DDR" bezeichnet, "die sich die Einheit erkämpft hatten und nun endlich auf bessere Lebensverhältnisse hoffen könnten", so wurde am Sonnabend eine deutliche Antwort gegeben: Rund 20 000 Demonstranten erteilten dem in ihren Augen undemokratisch verlaufenen Einigungsprozess eine Absage. Auf das nicht ernstgemeinte Angebot eines "Spaßvogels", Demo-Material in Form von Brandsätzen und Steinen zu beschaffen, ging man jedoch nicht ein.
(Berliner Zeitung, Mo. 01.10.1990)
In Berlin findet eine Demonstration gegen die Übernahme des § 218 statt. Vom Mehringdamm in Berlin-Kreuzberg bis zum Lustgarten in Berlin-Mitte.
Es ist "5 vor 12", "Kinder, Küche, Heim und Herd sind kein ganzes Leben wert!" – "Kohl weiß, was Frauen wünschen!", sind zwei von vielen Parolen.
5 vor 12. Nicht zur spät!
Demo am 29. 9. in Berlin gegen Einverleibung der DDR
5 vor zwölf. Die Stunden der DDR sind gezählt. Demokratisches Auf begehren des November '89 wurde plattgewalzt und damit soziale Rechte wie das auf Arbeit oder Kündigungsschutz. Unsicherheit lähmt. Wer aufgibt, ist geschlagen. Deshalb ruft ein breites Frauenbündnis Frauen und Männer, Kinder und ältere Menschen. Behinderte und Nichtbehinderte, In- und Ausländerinnen zu einer Demonstration am 29. September in Berlin. JW sprach mit Christiane Schindler, Sprecherin des Unabhängigen Frauenverbandes der DDR.
"Gegen eine Einverleibung der DDR - für ein selbstbestimmtes Leben." Ist dieses Motto der Demo, nicht zu nostalgisch?
Die Einverleibung der DDR geht doch am 3. Oktober erst richtig los, dafür sind mit dem Einigungsvertrag die juristischen Rahmenbedingungen geschaffen worden. Die Einschritte in das Leben von DDR-Frauen, -Männer und -Familien werden noch tiefer werden. Wir trauern dem alten Politbüro-System nicht nach, wehren uns aber dagegen, wenn Bewahrenswertes undemokratisch weggeworfen wird.
Überall heißt es, das ist eine Frauen-Demo.
Alle, die gegen die unsozialen Folgen des Anschlusses sind, gegen Intoleranz und Ausgrenzung, gegen ein undemokratisches und aggressives Deutschland, sind aufgerufen, am Sonnabend auf die Straße zu gehen. Es wäre verhängnisvoll, wenn zum Beispiel Männer glaubten, was Frauen wollen, das ginge sie nichts an.
Dutzende Vereine, Parteien und Gruppen unterstützen diese Demo.
Ein so großes Frauenbündnis von Gewerkschafterinnen, Politikerinnen und Frauen aus der autonomen Bewegung war noch nie zusammen.
5 vor zwölf geht es los. Wo?
Vom Mehringplatz in Westberlin laufen wir zum Lustgarten im Osten der Stadt zur Kundgebung.
Interview: Alrnuth Nehring
Junge Welt, Fr. 28.09.1990
Neues Deutschland am 26.09. und 29.09.1990