DDR 1989/90Brandenburger Tor

04.-07.09. Vorletztes Treffen der 2+4-Gespräche über die äußeren Aspekte der deutschen Einheit in Berlin

11.09. Der Zwei-plus-Vier-Vertrag wird in Moskau finalisiert

12.09. Der 2+4-Vertrag wird in Moskau unterschrieben

12.09. Die Besetzer im Haus 7 der ehemaligen Stasizentrale in Berlin-Lichtenberg treten in einen Hungerstreik

16.09. Die PDS setzt den im Februar begonnen Parteitag fort

21.09. Der Minister für Abrüstung und Verteidigung befiehlt die Auflösung der Grenztruppen

24.09. In Berlin wird ein Protokoll über die Herauslösung der Nationalen Volksarmee aus den Vereinigten Streitkräften des Warschauer Vertrages unterschrieben

26.09. Die SPD (DDR) und die SPD (BRD) beschließen auf getrennten Parteitagen in Berlin die Voraussetzungen für einen Vereinigungsparteitag

27.-28.09. Vereinigungsparteitag der SPD in Berlin



Mi. 5. September 1990


Link zum Protokoll der 34. Sitzung der Volkskammer

Das Wissen, das die ehemalige Stasi über ungefähr vier Millionen DDR-Bürger und zwei Millionen Bundesbürger angehäuft hat, ist Sprengstoff und wird`s noch lange bleiben. Seit Dienstag haben 30 Mitglieder verschiedener Bürgerbewegungen einige Räume des Hauses 7 des Stasi-Kolosses in der Berliner Normannen-/Ruschestraße besetzt. Die Aktion soll darauf aufmerksam machen, dass die Akten, die noch dort lagern von einer dunklen Ecke der "ausgeschalteten" Staatssicherheit in die andere dunkle Ecke westdeutscher Geheimdienste verschoben werden sollen. Denn diese Gefahr würde automatisch heraufbeschworen, kämen die akribisch geführten Dossiers über einzelne Personen, oppositionelle Gruppen und Stasi-Agenten unter die Verwaltung des neuen Bundes.

Das zumindest sieht die entsprechende Klausel des Einigungsvertrages vor. Die BesetzerInnen wollen sich dagegen wehren, neue Unmündigkeit der Bürger derart zementieren zu lassen, das Umgehen von DDR Geschichte in, so hart das in Vereinigungszeiten klingen mag, fremde Hände zu legen.

Die Stimmung im teilweise besetzten Gebäude bleibt gespannt, auch wenn Teile der Polizeieinheiten, die die Akten vor unbefugtem Zugriff schützen sollen, abgezogen sind. Türen der besetzten Räume sind aufgetreten worden. Es fielen Worte wie "da müsste man eine Kugel durchjagen …" Vielleicht wollen manche Uniformierte nicht wahrhaben, dass sich eine spezielle Abteilung der Stasi mit der Schnüffelei unter Polizisten befasste.

Doch die BesetzerInnen wollen sich dadurch nicht von ihren Forderungen abbringen lassen Personenbezogene Akten müssen dem Betroffenen ausgehändigt werden. Der soll entscheiden können, was mit seiner Akte passiert. Das verbleibende Material darf ausschließlich zu strafrechtlichen Ermittlungen unter Länderhoheit verwahrt werden. Die operativen Vorgangsakten der Stasi müssen der historischen Aufarbeitung zugänglich gemacht werden. Und letztendlich sind immer noch Stasi-Leute im Archivdienst tätig, die von diesen Schaltstellen verschwinden sollen. Bis diese Punkte erfüllt sind, bleiben die Räume besetzt.

Inzwischen liefen fast hektische Bemühungen staatlicher Stellen, des neuen Konfliktherdes Herr zu werden. Nachdem die Volkskammerpräsidentin Bergmann-Pohl und die Chefs der im Parlament vertretenen Parteien noch am Dienstagabend zu ersten Gesprächen ins Haus 7 eilten, war auch der DDR-Chefunterhändler für den Einigungsvertrag Krause "Mittler" der BesetzerInnen. Der allerdings mochte nicht ran an "sein" Dokument. Er fühle sich, sagen an den Gesprächen Beteiligte, sehr unwohl zwischen den Fronten der BesitzerInnen und denen bundesdeutscher Instanzen, die ihre Finger Iogischerweise nicht von den Stasi-Akten nehmen wollen. Innenminister Diestel (Forderungen nach dessen Rücktritt wurden laut) lehnte die Aktion rundweg ob. Er sagte gegenüber der Jungen Welt, dass es nicht angehe, wenn eine kleine Gruppe den demokratischen Mehrheitswillen missachte. (Man beachte jetzt, dass sogar ein Gesetz der Volkskammer zum Umgang mit den Stasi-Akten im Einigungsvertrag nur wenig Beachtung fand. Wo bleibt er, der demokratische Mehrheitswille?)

Nachdem Strafanzeige wegen Hausfriedensbruchs gegen die Besetzer gestellt wurde, spitzte sich die Lag am Mittwochnachmittag zwischenzeitlich zu, als die Polizei den Gebäudekomplex abriegelte. Die Ordnungshüter verweigerten sowohl dem Anwalt der Gruppe als auch der Presse den Zutritt. Etwa 250 Personen demonstrierten am Abend vor dem Stasi-Komplex gegen die Übergabe der Stasi-Akten an den Bund. Einige versuchten erfolglos den Eingang zu stürmen. Der Liedermacher und frühere DDR-Dissident Wolf Biermann durfte zu den Besetzern um - noch seinen Worten - "auf der Gitarre ein paar Lieder zu spielen".

Wenig später hatte sich die Lage vor der ehemaligen Stasi-Zentrale entspannt. Die Polizeiketten auf dem Gelände zogen sich zurück. Vor dem Haupttor schlugen Teilnehmer einer Mahnwache ihr Zelt auf.

Das Geschehen hat etwas Fatales: Die gleichen Leute, die letzten Oktober schon ihren Kopf für die Erneuerung hinhielten, müssen jetzt wieder auf die Straße gehen, um das einzufordern, was viele schon errungen glaubten: Demokratie.
(Junge Welt, Do. 06.09.1990)

Mehr als eine halbe Million Sowjetdeutsche haben Ausreiseanträge gestellt, berichtete die sowjetische Presseagentur Nowosti.
(Berliner Zeitung, Do. 06.09.1990)

Die Mecklenburgische Volkszeitung mit dem Untertitel "Unabhängiges, überparteiliches Tagesblatt für Rostock und Umgebung" stellt ihr Erscheinen ein. Die 1892 gegründete Zeitung, 1933 verboten erschien wieder ab 15.02.1990.

Die Stadtverordnetenversammlung in Guben beschließt mit Mehrheit den Beinamen "Wilhelm-Pieck-Stadt" zu streichen.

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