Berlin. Eigentlich müsste man Frau Bergmann-Pohl im Nachhinein dankbar sein, dass sie gegen die im Lustgarten beantragte Kundgebung für freie Wahlen ohne Sperrklausel ihr Veto einlegte: Wer weiß, ob der von ihr vorgeschlagene August-Bebel-Platz der übrigens zu Volkskammertagungen als Parkplatz genutzt wird - jene 80 000 Menschen gefasst hätte, die sich nun auf Einladung von Persönlichkeiten verschiedener linker Parteien und Bürgerbewegungen auf dem Alexanderplatz versammelt hatten.
Direkt von der Sondertagung waren Abgeordnete der Volkskammer gekommen. Als erster Redner trat PDS-Vorsitzender Gregor Gysi ans Mikrofon: "Die Regierung hat inzwischen deutlich erkannt, dass sie den Prozess der Vereinigung nicht mehr beherrscht, und anstatt das einzuräumen, versucht sie die Verantwortung abzuschieben und das Ganze als Erfolg zu feiern. Wir haben eine Regierung, die man nicht aus der Verantwortung entlassen, sondern endlich in die Verantwortung stellen sollte."
Als Notzuchtmaßnahme einer bankrotten Regierung bezeichnete Professor Jens Reich vom Neuen Forum den schnellen Anschluss der DDR an die BRD. Es gäbe keine befriedigenden Lösungen für die Eigentumsfragen, bei Grundstücken, Wohnungen, Mieten, Mindestrenten, für die Anerkennung von Berufsabschlüssen . . . Deshalb könne über den Beitritt erst verhandelt werden, wenn Staatsvertrag Nummer unter Dach und Fach sei.
"Was ist aus den Wahlversprechen von Kohl und de Maizière geworden, keinem solle es schlechter gehen", fragte Harald Wolf von der Alternativen Liste aus Westberlin. Der Redner forderte: "Die Kosten der Einheit sollen die bezahlen, die daran verdienen, die westdeutschen Monopole!" Wolf erinnerte daran, dass die SPD die Politik in allen entscheidenden Punkten mitgetragen hatte. Kritik an den Sozialdemokraten ja, Gräben aufreißen nein - darin waren sich die Versammelten einig und begrüßten herzlich Jungsozialisten der SPD.
Die Kundgebungsteilnehmer vereinte ein großer Konsens, wie Michael Mäde von der Vereinigten Linken feststellte, von den Bürgerbewegungen über die PDS bis zu großen Teilen der Alternativen Liste und der Grünen. Petra Bläss vom UFV, die noch im März als Vorsitzende der Wahlkommission immer wieder erklärt hatte, dass keine Stimme ausgegrenzt werde - eben weil es keine Sperrklausel gab -, forderte, jetzt als Wähler für die Linke in Gesamtdeutschland, für die Bürgerbewegungen des Herbstes einzutreten.
Eva Rohmann vom DFD, die sich für die Rechte der Frauen einsetzte, klagte die sofortige Veröffentlichung der Anlagen zum Einigungsvertrag ein. Anschließend solidarisierten sich die Demonstranten mit Teilnehmern des Mahnfastens für einen Atomteststopp am Brandenburger Tor, die zum Alex gekommen waren.
Die bereits im ND nachzulesende Rechnung über einen Lastenausgleich der Bundesrepublik an die DDR machte der selbständige BRD-Unternehmer Dieter Aengenheister auf.
Den Schlusspunkt unter die Kundgebung setzten Ruth Martin, Vorsitzende der Gewerkschaft Kunst, Kultur, Medien, und Rolf Hauschild vom Deutschlandsender, die den politisch motivierten Würgegriff gegen DDR-Medien verurteilten.
(Neues Deutschland, Do. 09.08.1990)