Berlin (ND-Fleischmann). Der Einigungsvertrag über den Beitritt der DDR zur BRD wurde am Freitagmittag von Bundesinnenminister Dr. Wolfgang Schäuble und Staatssekretär Dr. Günther Krause im von einem starken Polizeiaufgebot abgeriegelten Berliner Palais Unter den Linden unterzeichnet. Bundeskanzler Kohl war zur allgemeinen Überraschung nicht anwesend. Das 45 Artikel und über 900 Seiten umfassende Vertragswerk war in der Nacht in Bonn von beiden Verhandlungsführern paraphiert und von den beiden Regierungen am Freitagvormittag gebilligt worden.
Ministerpräsident Lothar de Maizière feierte das Vertragswerk als eines der bedeutendsten in der deutschen Nachkriegsgeschichte. Er hob die Festschreibung der Ergebnisse der Bodenreform, die Klarheit über Eigentumsfragen, die gleichberechtigte Bewertung von Ausbildungsabschlüssen und die umfassende Vorsorge für die Bewältigung von Umstellungsproblemen hervor.
Der Premier kündigte an, dass mit dem Vertrag Voraussetzungen für Investitionen geschaffen werden. Ein umfangreiches Programm der Regionalförderung werde eingeleitet, das allein 1,2 Millionen Arbeitsplätze sichere oder neu schaffe. Außerdem könnten die neuen Länder an der Wirtschaftskraft des geeinten Deutschlands angemessen teilhaben.
Dieses rosige Bild der Zukunft, offenkundig vom schon begonnenen Wahlkampf geprägt, relativierte de Maizière allerdings mit der Feststellung, dass sich auch nach dem Einigungsvertrag nicht sofort alle Blütenträume verwirklichen werden. Dort, wo DDR-Sozialrecht günstiger ist als das BRD-System, werde es Übergangsregelungen geben, über deren Dauer er keine Aussage machte.
Minister Schäuble unterstrich, dass das Grundgesetz mit den im Zusammenhang mit der Einheit erfolgenden Änderungen für ganz Deutschland in Kraft gesetzt werde. Das übrige Bundesrecht wird durch eine Generalklausel übergeleitet, die Strukturen der DDR würden auf verträgliche Weise angepasst. Auch der Bundesminister machte betont auf Optimismus: Dem Zufluss von Kapital und unternehmerischer Initiative stehe nichts mehr im Wege. Jetzt sei die Zeit zum Handeln für die Wirtschaft. Er sei sicher: Der Aufschwung komme schneller als viele annehmen.
Erste Stellungnahmen sprechen von zwiespältiger Aufnahme des Vertrages. Die PDS-Volkskammerfraktion will sich am Dienstag eine endgültige Meinung bilden. Vorsitzender Gregor Gysi sagte, die PDS sei in einer "klassisch sozialdemokratischen Situation", wo man "eine Kröte schlucken müsse". Bei allen Mängeln habe der Vertrag Vorteile gegenüber einem Überleitungsgesetz, das ohne DDR-Mitwirkung zustande kommen würde und jederzeit mit einfacher Mehrheit vom Bundestag geändert werden könne.
Positiv mit kritischen Untertönen bewertete der Vorsitzende der SPD (Ost), Wolfgang Thierse, den Vertrag. Zwar seien wesentliche Forderungen der SPD, so die Sicherung der Bodenreform, berücksichtigt, aber die Finanzausstattung der Kommunen sei unzureichend geregelt. Die Fraktion Bündnis 90/Grüne lehnt den Vertrag in der jetzigen Fassung ab und nennt ihn eine Verhöhnung der Volkskammer, über deren Entscheidung zu den Stasiakten man sich hinweggesetzt habe. Grund zur Ablehnung gebe auch die Übernahme des Treuhandvermögens durch Finanzminister Waigel.
FDP-Vorsitzender Rainer Ortleb sprach Von einem Sieg der Vernunft und einem Gesetz, dem jeder guten Gewissens zustimmen könne. Heinz Galinski, Vorsitzender des Zentralrates der Juden in Deutschland, bekundete Enttäuschung, dass die Präambel nicht ein Bekenntnis zu den Verpflichtungen aus der verbrecherischen deutschen Vergangenheit enthält.
(Neues Deutschland, Sa. 01.09.1990)
Auf der Tagung der Friedrich-Ebert-Stiftung in Berlin sagt Lothar de Maizière am 19.06.1998: "Die Angst, eine völkerrechtliche Anerkennung der DDR zu vollziehen, habe ich noch 1990 erlebt. Ein Beamter des Bundesinnenministeriums fragte mich, als wir den Einigungsvertrag aushandelten, ob dies nun ein staatsrechtlicher Vertrag oder gar ein völkerrechtlicher Vertrag sei; er hatte mächtige Angst, auf den letzten Metern die DDR doch noch völkerrechtlich anzuerkennen. Ich habe ihm damals gesagt: 'Wissen Sie, das ist ein Vertrag sui generis.' - Damit war er zufrieden."
Link zum Einigungsvertragsgetz. Bundesgesetzblatt Einigungsvertrag