Berlin. BZ – Olaf Wilke Mit landesweiten Protestaktionen demonstrierten gestern rund 250 000 DDR-Landwirte und Angestellte der Agrarproduktion gegen den Ausverkauf der ostdeutschen Landwirtschaft, der sie in eine nahezu aussichtslose Lage gebracht hat.
Auf Kundgebungen, mit Straßenblockaden und Arbeitsniederlegungen setzten sich die Bauern für staatliche Hilfe gegen Absatzprobleme und Preisverfall ein. Die zentrale Kundgebung auf dem Berliner Alexanderplatz zählte rund 50 000 Teilnehmer. In Bonn überreichten Vertreter der fünf DDR-Agrarverbände. und des Deutschen Bauernverbandes der Bundesrepublik eine Petition an Landwirtschaftsminister Kiechle.
Bei drückender Schwüle und in gereizter Stimmung machten die Kundgebungsteilnehmer auf dem Alexanderplatz rasch deutlich, wer für sie als Gesprächspartner nicht mehr in Frage kommt: Landwirtschaftsminister Pollack suchte ausgepfiffen im Eier- und Tomaten-Regen wortlos das Weite. Sein Schicksal teilte der Vorsitzende des Landwirtschaftsausschusses der Volkskammer Watzek.
"Herr de Maizière hat mich geschickt, um mich mit Ihnen zu unterhalten", erklärte Staatssekretär Krause. Seine von Zwischenrufen wie "Blockflöte" und "Bonner Marionette", Eierwürfen und Pfiffen begleitete Rede erregte einige Bauern derart, dass Handgreiflichkeiten nur mit Mühe verhindert wurden Er wisse auch nicht, wo die von der Regierung eingesetzten Preisstützungsgelder versickerten. "Ich bitte die Betriebe, die bisher keinen finanziellen Ausgleich bekommen haben, an mich zu schreiben", forderte Krause auf.
"Das, was die Regierungsvertreter heute hier gesagt haben, ist das, was sie bisher gesagt haben - das nutzt uns überhaupt nichts", konstatierte der Präsident des DDR-Bauernverbandes Dämmrich am Schluss der Veranstaltung.
(Berliner Zeitung, Do. 16.08.1990)
Als einen tragischen Irrtum bezeichnete der Präsident des DDR-Genossenschaftsverbandes Dr. Edgar Müller gestern [15.08.] das Vertrauen, das die Bauern der Republik in die Regierung de Maizière gesetzt haben. Ihrem Unmut über die verfehlte Landwirtschaftspolitik der Koalition gaben Zehntausende Teilnehmer der Demonstration auf dem Berliner Alexanderplatz aber noch drastischer Ausdruck: "Am 18. März halfen wir Euch zum Sieg, jetzt erklären wir Euch den Krieg" oder "Wir wünschen Herrn Pollack einen schönen Urlaub - für immer" war auf Transparenten und Schildern zu lesen, schwarze Fahnen wehten über dem Alex. Als der Minister dann versuchte, das Wort zu ergreifen, bekam er den Zorn der Bauern direkt zu spüren: Es flogen nicht nur Eier und Tomaten, Pollack selbst wurde angegriffen, sein Auto demoliert. Am Rande der Kundgebung stoppten Bauern unter anderem aus den LPG Schulzendorf im Kreis Bad Freienwalde kurzerhand den Verkehr auf den anliegenden Straßen.
Die Gründe für diese Aktion: "50 Pfennig wird uns für das Kilo Schwein angeboten, 500 Mark für eine Kuh - damit können wir nicht überleben!" DDR-weit waren gestern mindestens 250 000 Beschäftigte der Landwirtschaft auf den Straßen. Die Entschuldung der landwirtschaftlichen Betriebe, die Klärung der offenen Eigentumsfragen sowie ein Nachtragshaushalt einschließlich strukturfördernder Maßnahmen wurden von den Bauern eingeklagt. Ausbuhen lassen musste sich auf dem Alex ein Vertreter des Landwirteverbandes der DDR mit seiner Forderung, die LPGen wieder in bäuerliche Einzelbetriebe aufzusplittern.
Auch Bonn blieb gestern nicht von Bauernprotesten verschont. Delegationen von DDR- und BRD-Bauernverbänden überreichten Landwirtschaftsminister Kiechle eine Petition, in der sie verlangen, dass sich die deutsche Einheit nicht zu Lasten der Bauern vollziehen dürfe.
Von unserer Berichterstatterin Ulrike Henning
(Junge Welt, Do. 16.08.1990)
Eigelb am Jackett von Staatssekretär Krause. Wurfgeschosse in Richtung Rednergilde und Hupkonzerte von den blockierten Hauptstraßen waren die Begleiterscheinungen der gestrigen Bauerndemonstration auf dem Alexanderplatz. Erhitzte Gemüter machten so ihrem Zorn über die existenzbedrohende Lage in der Landwirtschaft Luft. Pfiffe und ohrenbetäubende Buh-Rufe verhinderten die Rede von Dr. Hans Watzek. Landwirtschaftsminister Dr. Peter Pollack sah sich einer Kanonade aus Eiern, Tomaten und anderen Gegenständen gegenüber. Er kam trotz mehrerer Anläufe über das Wort "Liebe . . ." nicht hinaus. Sein Dienstfahrzeug wurde von aufgebrachten Demonstranten beschädigt.
Schnellstmögliche Verabschiedung eines Nachtragshaushaltes von rund vier Milliarden DM forderte Dr. Edgar Müller, Präsident des DDR-Genossenschaftsverbandes. Weiter seien die Klärung der Eigentumsfragen, die Entschuldung der Betriebe und die Schaffung von genauen Rahmenbedingungen für neue Strukturen unbedingt nötig, um den drohenden Ruin der Bauernschaft zu verhindern. Müller appellierte an beide deutsche Regierungen, nicht nur wahltaktische Manöver durchzuziehen, sondern sich um die Lösung anstehender Probleme zu kümmern.
Dass die Sorgen der DDR-Bauern auch ihre Berufskollegen in der Bundesrepublik berühren, betonte Senator Gustav Sühler, 1. Vizepräsident des Deutschen Bauernverbandes der BRD. Die deutsche Vereinigung dürfe nicht auf dem Rücken der Bauern in Ost und West ausgetragen werden.
Den meisten Beifall erhielten die nicht geplanten Redner. Wohl auch deshalb, weil sie am glaubhaftesten waren. Klaus Schröder, Schlosser in der LPG (T) Wiendorf, Kreis Bützow, mahnte die Abgeordneten der Volkskammer, sich entsprechend ihren hohen Gehältern auch für die Bauern einzusetzen. Er selbst müsse trotz seiner nur 635.- DM Netto im Monat, jetzt mit vielen anderen in seiner Genossenschaft um seine Existenz bangen. Und das bei einer Familie mit drei Kindern.
Staatssekretär Dr. Günther Krause versprach im Namen der Regierung de Maizière, sich für weitere Gelder für die Landwirtschaft einzusetzen. So richtig ernst nahm das allerdings keiner.
Wie emotionsgeladen die Situation gestern war, machte auch die Rede von DDR-Bauernverbandspräsident Karl Dämmrich deutlich. Er kündigte an, dass die DDR-Bauern auch bereit wären, nach Brüssel zukommen, um dort etwas nachzuhelfen, bei entsprechenden Beschlüssen zur Chancengleichheit unserer Landwirtschaft.
Eine Delegation des Europäischen Bürgerforums Limans in Frankreich überbrachte den DDR-Bauern auf der Demo eine Solidaritätserklärung.
(Deutsches Landblatt, Do. 16.08.1990)