Alte Stalinisten als neue Unternehmer
DIE ANDERE: Am vergangenen Wochenende fand im Werk für Fernsehelektronik in Berlin ein DDR-offenes Treffen von Betriebsräten und Initiativen statt. Würdest du als einer der Initiatoren von der Betriebsgruppe der Vereinigten Linken meinen, dass sich das Treffen gelohnt hat?
F. T(...): Es war ein wichtiger Erfahrungsaustausch, denn unter verschiedenen Namen arbeiten ja bereits Betriebsräte, z. B. der Institutsrat für Wissenschaftlichen Gerätebau, der Arbeiterrat im VEB Stadtwirtschaft, der Gesellschaftliche Aufsichtsrat bei NARVA. Es gibt viele Initiativen, die wissen wollen, wie die Arbeit funktioniert, was man beachten muss, um die größtmögliche Kontrolle über die Betriebsleitung zu gewährleisten und die Mitbestimmung zu sichern.
DIE ANDERE: Meinst Du, dass die Zeit noch ausreicht für die Entwicklung solcher basisdemokratischen Modelle, denn wenn es nach dem Modrow-Plan geht, werden wir noch in diesem Jahr das westliche Wirtschaftsmodell übernommen haben bzw. von den kapitalstarken Unternehmen der Bundesrepublik vereinnahmt sein?
F. T(...): Die Situation ist jetzt schon so verheerend, dass sofort gehandelt werden muss. Alte Stalinisten wenden sich zu neuen Unternehmern, die 40 Jahre praktizierte Verantwortungslosigkeit wird fortgesetzt, und wieder auf dem Rücken der Werktätigen. Nur Betriebsräte können sichern, dass die Verhandlungen mit dem westlichen Kapital sachgerecht und im Interesse der Belegschaft erfolgen. Die komplizierte Umstellung der Betriebe auf ein marktwirtschaftliches System darf nicht ohne die Kompetenz der direkt davon Betroffenen geschehen, die sinnvolle Produktionsstrukturen und den Erhalt der Betriebe ebenso zu sichern haben wie die demokratische Machtausübung der Werktätigen. Wenn wir jetzt nicht wenigstens einen Fuß in der Tür haben, indem z. B. die Arbeitskollektive für ihre Lohn- und Sozialfonds selber verantwortlich werden, haben wir später kaum noch Chancen, unsere Rechte zu sichern. Keiner wird die uns auf einem silbernen Tablett servieren.
DIE ANDERE: Ersetzen die Betriebsräte dann einfach die Leitung?
F. T(...): Nein, man könnte vielleicht sagen, die Betriebsräte sind so etwas wie das Parlament des Betriebes, und die Betriebsleitung ist dann gewissermaßen die Regierung.
DIE ANDERE: Und welche Rolle haben dann noch die Gewerkschaften?
F. T(...): Nach unseren Vorstellungen sind sie die Interessenvertreter ihrer Mitglieder, nicht die des gesamten Betriebes. Ein Alleinvertretungsanspruch von Gewerkschaften ist nicht mehr zeitgemäß. Wir haben inzwischen ein sehr gutes Verhältnis zu den Gewerkschaftern, weil beide eingesehen haben, dass es in erster Linie darum geht, so schnell und so effektiv wie möglich die politischen und sozialen Rechte der werktätigen Bevölkerung zu sichern, das Wie ist dabei zweitrangig.
Wir unterstützen unabhängige Gewerkschaftsinitiativen, indem wir dafür eintreten, dass jeder das Recht hat, eine Gewerkschaft zu gründen, aber wir gehen auch davon aus, dass nur große und starke Einheitsgewerkschaften in der Lage sind, der Regierung mit ihren Forderungen entgegenzutreten. Auch deshalb begrüßen wir eine enge Zusammenarbeit.
DIE ANDERE: Wie wird es mit Eurer Betriebsgruppe weitergehen?
F. T(...): Sie wird versuchen, die unterschiedlichen Aktivitäten zu koordinieren. Sämtliche Dokumente von Betriebsräten werden bei uns gesammelt, aus denen ein Entwurf über die Grundsätze und Aufgaben dieser Gremien erarbeitet wird. So ein Flugblatt kann über das Büro der Vereinigten Linken im Haus der Demokratie bezogen werden. Außerdem findet dort jeden Dienstag um 19.00 Uhr ein Erfahrungsaustausch statt.
Das Gespräch führte Marion Seelig
aus: Die Andere, Nr. 4, 15.02.1990, Zeitung für basisdemokratische Initiativen im Auftrag des Landessprecherrates des Neuen Forum, herausgegeben von Klaus Wolfram