Für Deutschland einig Vaterland
Konzeption Hans Modrows für den Weg zu einem einheitlichen Deutschland
Europa tritt in eine neue Etappe seiner Entwicklung ein. Das Nachkriegskapitel wird abgeschlossen. Voraussetzungen für eine friedliche und gutnachbarliche Zusammenarbeit aller Völker bilden sich heraus. Die Vereinigung der beiden deutschen Staaten rückt auf die Tagesordnung.
Das deutsche Volk wird seinen Platz beim Aufbau der neuen Friedensordnung finden, in deren Ergebnis sowohl die Teilung Europas in feindliche Lager als auch die Spaltung der deutschen Nation überwunden werden. Es ist die Stunde gekommen, einen Schlussstrich unter den Zweiten Weltkrieg zu ziehen, einen deutschen Friedensvertrag abzuschließen. Durch ihn würden alle Probleme geregelt, die mit der Aggression Hitlerdeutschlands und dem Scheitern des "Dritten Reiches" verbunden sind.
Eine endgültige Lösung der deutschen Frage kann nur in freier Selbstbestimmung der Deutschen in beiden Staaten erreicht werden, in Zusammenarbeit mit den vier Mächten und unter Berücksichtigung der Interessen aller europäischen Staaten. Sie muss den gesamteuropäischen Prozess fördern, der unseren Kontinent ein für allemal von militärischen Gefahren befreien soll. Die Annäherung beider deutscher Staaten und ihre nachfolgende Vereinigung darf durch niemanden als Bedrohung betrachtet werden.
In diesem Sinne schlage ich einen verantwortungsbewussten nationalen Dialog vor. Sein Ziel sollte es sein, konkrete Schritte zu bestimmen, die zu einem einheitlichen Deutschland führen, das ein neuer Faktor der Stabilität, des Vertrauens, des Friedens in Europa zu werden bestimmt ist.
Die Vertreter der DDR und der BRD könnten mit einem solchen Dialog und in gleichberechtigten Verhandlungen bestmögliche Antworten auf die Frage nach der Zukunft der deutschen Nation finden.
Die Schritte auf dem Weg zur deutschen Einheit könnten sein:
- Abschluss eines Vertrages über Zusammenarbeit und gute Nachbarschaft als eine Vertragsgemeinschaft, die bereits wesentliche konföderative Elemente enthalten sollte wie Wirtschafts-, Währungs- und Verkehrsunion sowie Rechtsangleichung.
- Bildung einer Konföderation von DDR und BRD mit gemeinsamen Organen und Institutionen, wie z. B. parlamentarischer Ausschuss, Länderkammer, gemeinsame Exekutivorgane für bestimmte Bereiche.
- Übertragung von Souveränitätsrechten beider Staaten an Machtorgane der Konföderation.
- Bildung eines einheitlichen deutschen Staates in Form einer Deutschen Föderation oder eines Deutschen Bundes durch Wahlen in bei den Teilen der Konföderation, Zusammentreten eines einheitlichen Parlaments, das eine einheitliche Verfassung und einheitliche Regierung mit Sitz in Berlin beschließt.
Notwendige Voraussetzungen für diese Entwicklung:
- Jeder der beiden deutschen Staaten trägt dafür Sorge, die Schritte zur Einheit Deutschlands mit seinen Verpflichtungen gegenüber anderen Ländern und Ländergruppen sowie mit notwendigen Reformen und Veränderungen in Übereinstimmung zu bringen. Hierzu gehört der Übergang der DDR zur Länderstruktur. Wahrung von Stabilität, Recht und Gesetz im Innern gehören ebenso zu den unabdingbaren Voraussetzungen wie die strikte Erfüllung früher abgeschlossener Verträge zwischen der DDR und der BRD, die unter anderem vorsehen, sich gegenseitig nicht in innere Angelegenheiten einzumischen.
- Wahrung der Interessen und Rechte der vier Mächte sowie der Interessen aller Völker Europas an Frieden, Souveränität und sicheren Grenzen. Die vier Mächte sollten ihre Absicht erklären, nach Bildung eines einheitlichen deutschen Staates alle aus dem Zweiten Weltkrieg und der Nachkriegsperiode entstandenen Fragen abschließend zu regeln einschließlich der Anwesenheit ausländischer Truppen auf deutschem Boden und der Zugehörigkeit zu Militärbündnissen.
- Militärische Neutralität von DDR und BRD auf dem Weg zur Föderation. Dieser Prozess der Vereinigung der Deutschen vollzieht sich auf der Grundlage von Vereinbarungen zwischen den Parlamenten und Regierungen der DDR und der BRD. Alle Seiten bekunden ihren Willen zu demokratischen und gewaltlosen Formen der politischen Auseinandersetzung und schaffen dazu notwendige Garantien einschließlich Volksbefragungen.
Die Konzeption bekennt sich zu den demokratischen, patriotischen, fortschrittlichen Ideen und Bewegungen für die Einheit der deutschen Nation aus gemeinsamer Geschichte und jüngster Vergangenheit. Sie bekennt sich zu den humanistischen und zu den antifaschistischen Traditionen des deutschen Volkes.
Diese Konzeption wendet sich an die Bürger der DDR und der BRD, an alle europäischen Völker und Staaten, an die Weltöffentlichkeit mit der Bitte um Unterstützung.
Hans Modrow
Ministerpräsident der
Deutschen Demokratischen Republik
aus: Sächsische Zeitung, Nr. 28, 02.02.1990, 45. Jahrgang, Tageszeitung für Politik, Wirtschaft und Kultur, Herausgeber: Verlag Sächsische Zeitung
Hans Modrow schrieb später über sein Treffen mit Michail Gorbatschow am 30.01.1990: "Noch vor dem Gespräch wurde Gorbatschow gefragt, mit welcher Position zur deutschen Frage er in dieses Treffen gehen würde. Ohne Umschweife erklärte Gorbatschow hier bereits, dass die Sowjetunion das Recht der Deutschen auf Selbstbestimmung achten würde."
Und ein paar Seiten später: "Wenige Tage später besuchte Bundeskanzler Kohl Moskau. Die Grundhaltung der Sowjetunion zur Vereinigung der beiden deutschen Staaten war zu diesem Zeitpunkt bereits geklärt. Wie die Vereinigung dann später ablief, entsprach aber wohl nicht dem Inhalt beider Gespräche."
"Ein Jahr danach will ich auch der Frage nicht ausweichen, ob meine Erklärung 'Deutschland, einig Vaterland' vom 1. Februar nur unter dem Zwang der Ereignisse abgegeben wurde oder auch der eigenen Überzeugung entsprach. Nach meiner Einsicht war der Weg zur Einheit unumgänglich notwendig und musste mit Entschlossenheit beschritten werden."
Hans Modrow: Aufbruch und Ende, Konkret Literatur Verlag Hamburg, 2. Auflage 1991, S. 120, 123, 145
Hans Modrow habe ihn einen Tag vor dem Abflug nach Moskau über sein Vorhaben unterrichtet, schreibt Gregor Gysi.
Gregor Gysi: Ein Leben ist zu wenig Die Autobiographie. Aufbau Verlag GmbH 2. Auflage 2017, S. 331
Der SPD-Vorsitzende Hans-Jochen Vogel sagte vor dem Deutschen Bundestag in Bonn am 15.02.1990: "Frau Präsidentin! Meine sehr verehrten Damen und Herren! In voller Übereinstimmung mit der Sozialdemokratischen Partei Deutschlands in der DDR bejahen wir die deutsche Einigung und als ihr Ergebnis die deutsche Einheit.
(Beifall bei der SPD)
Wir freuen uns über jeden Fortschritt, der auf dem Wege dorthin erzielt wird.
Deshalb haben wir es begrüßt, dass Generalsekretär Gorbatschow Ende Januar im Zusammenhang mit dem Besuch von Ministerpräsident Modrow erklärt hat, das Selbstbestimmungsrecht gelte auch für die Deutschen; es sei ihre Sache, über die Form ihres Zusammenlebens zu entscheiden. Das war der entscheidende Fortschritt der sowjetischen Politik in der deutschen Frage.
(Beifall bei der SPD - Dr. Rüttgers [CDU/CSU]: Unglaublich!)
Wenn schon von einem historischen Ereignis gesprochen wird, dann war diese Entscheidung Michail Gorbatschows von Ende Januar eine historische Entscheidung,
(Beifall bei der SPD - Dr. Rüttgers [CDU/CSU]: Unglaublich!)
eine Entscheidung, die erneut seinen Realitätssinn und sein Verantwortungsbewusstsein unter Beweis gestellt hat, eine Entscheidung, die unseren Dank und den Dank aller Deutschen verdient.
(Beifall bei der SPD)"
(Deutscher Bundestag, Stenographischer Bericht, 197. Sitzung, 15. Februar 1990)
2010 schrieb Hans Modrow: "Die beiden Organisationsstrukturen, die politisch-militärische im Warschauer Vertrag und die wirtschaftliche im Rat für gegenseitige Wirtschaftshilfe, befinden sich in der Krise bzw. im Zerfall. Die Sowjetunion lässt weder ihre Absichten erkennen, noch zeigt sie sich zu politischem Handeln in der deutschen Frage fähig. Zum ersten Mal in der gesamten Nachkriegsgeschichte ist die DDR so souverän in ihrem Handeln, um in Moskau eine Konzeption für die Vereinigung der beiden deutschen Staaten in Gestalt eines Drei-Stufen-Plans vorzulegen: Vertragsgemeinschaft - Konföderation - Bundesstaat. Am 30. Januar 1990 findet das Zusammentreffen der sowjetischen Führung mit Hans Modrow statt, also mit Gorbatschow als Generalsekretär der KPdSU und Präsident der Sowjetunion, Ministerpräsident Ryshkow, Außenminister Eduard Schewardnadse und dem ZK-Sekretär für internationale Fragen, Falin. Der Drei-Stufen-Plan wird beraten und findet Zustimmung. Der von der Sowjetunion nachdrücklich vertretene Anspruch auf militärische Neutralität Deutschlands wird diskutiert und gemeinsam vertreten. Am 1. Februar wird der Stufenplan auf einer internationalen Pressekonferenz in Berlin vorgestellt."
Und: "Was noch am 1. Februar für die DDR und die Sowjetunion als gemeinsamer Standpunkt galt, wurde vom Außenminister der USA, Baker, am 8./9. Februar 1990 in Moskau ausgeräumt. Gorbatschow stimmte der NATO-Variante zu und öffnete im Grunde schon damals das Tor für die Erweiterung der NATO um über 800 km Richtung Osten. Helmut Kohl wurde am 10. Februar 1990 mit der Kapitulation Gorbatschows in dieser Frage beglückt."
Hans Modrow in Jesse, Eckhard; Schubert, Thomas (Hg.): Zwischen Konfrontation und Konzession. Friedliche Revolution und deutsche Einheit in Sachsen, Ch. Links Verlag Berlin 2010, Seite 200
Michail Gorbatschow schrieb später: "In der Erklärung war von der allmählichen Schaffung einer Konföderation beider deutscher Staaten die Rede, d.h. von der allmählichen Annäherung der DDR und der Bundesrepublik Deutschland. Dies aber widersprach der eigenen Einschätzung Modrows, der mir an Hand von Fakten überzeugend gezeigt hatte, dass der unaufhaltsame Zerfall des Staates DDR begonnen hatte. Wem sollte sich dann die Bundesrepublik 'annähern'?"
Und: "Mir wurde klar, dass die Regierung der DDR unter Führung von Hans Modrow, dem fähigsten und würdigsten Nachfolger Honeckers, nicht nur nicht Herr der Situation war, sondern im Verständnis der Maßstäbe und Gefährlichkeit dessen, was in beiden deutschen Staaten bereits zutage trat, hinter der Entwicklung zurückblieb."
Und: "Durch die Begegnung mit Modrow gewann ich Klarheit darüber, dass meine Hauptpartner bei der praktischen Lösung der akuten Probleme, die in dem bereits in Gang befindlichen Prozess der Wiedervereinigung Deutschland entstanden, Kohl und Bush sein würden."
Michail Gorbatschow: Wie es war, Die deutsche Wiedervereinigung, Ullstein Verlag 1999, S. 100f
Hans Modrow schrieb in der Wochenzeitung "Die Zeit" am 20.04.1990: "Bei unserer zweiten Begegnung, am 29. Januar 1990, ging der Generalsekretär bereits davon aus, dass die Zeichen auf Vereinigung der beiden deutschen Staaten stünden. Die sowjetischen Experten hatten den inzwischen faktisch begonnenen Prozess so weit analysiert, dass über mögliche Etappen diskutiert werden konnte. Selbstverständlich spielte das sowjetische Sicherheitsinteresse dabei die Hauptrolle. Eine Konföderation war der weitestgehende Schritt, über den die Sowjetunion damals diskutieren wollte. Immerhin wurde die Schrittfolge zu "Deutschland, einig Vaterland" akzeptiert, die ich dann am 1. Februar der Öffentlichkeit vorstellte. Gorbatschow stimmte den Grundzügen zu, die ich ihm entwickelte.
Danach flog Bundeskanzler Kohl in die sowjetische Hauptstadt. Als er zurückgekehrt war, ließ er mitteilen, der Schlüssel zur Einheit Deutschlands liege nicht länger in Moskau. Der Bundeskanzler habe den Schlüssel abgeholt, er liege jetzt in Bonn. Wenn dies die geschichtliche Wahrheit sein soll, bleibt nur zu ergänzen, dass wohl der vorhergehende deutsche Besucher diesen Schlüssel gefeilt haben muss."
Die erste Begegnung Modrows mit Michail Gorbatschow fand am 04.12.1989 in Moskau statt.
Bei dem Gespräch am 30.01.1990 in Moskau wurde darüber debattiert, wie Modrows Konzeption am besten in die Welt gesetzt werden kann. Es gab Überlegungen sie als Konzeption der Regierungskoalition oder auch im Namen aller am Runden Tisch versammelten Kräfte zu präsentieren. Es bestehe die Gefahr, dass nicht alle Teile der Regierung der Initiative zustimmen, wurde zu bedenken gegeben. Es können unnötige Debatten ausgelöst werden.
Auf die Frage, ob die Regierungsmitglieder bereits informiert seine, verneinte Hans Modrow.
Nikolai Ryshkow schlug vor, die Initiative vor der Volkskammer vorzutragen. Der Termin für die nächste Volkskammertagung war aber erst nach dem Treffen von Hans Modrow und Helmut Kohl am 03.02.1990 in Davos. Die Initiative solle aber vor dem Treffen das Licht der Welt erblicken.
Sie wurde dann am 01.02.1990 auf einer Pressekonferenz in Berlin von Hans Modrow vorgestellt
Bereits in seiner Rede vor dem Politischen Ausschuss des Europäischen Parlaments am 19.12.1989 geht der sowjetische Außenminister, Eduard Schewardnadse, von einer zukünftigen deutschen Einheit aus. Er fragt nach möglichen Strukturen und Modalitäten in einem hypothetischen Deutschland. Um sie sogleich abzulehnen. Eine Politik der Sowjetunion, die keine Antwort weiß, die sich durch die nächsten Monate zieht.
Während einer Diskussion im Beraterstab von Michail Gorbatschow am 26.01.1990 wird von einem geeinten Deutschland in der Zukunft ausgegangen. Der Prozess kann nicht aufgehalten werden. Die DDR zu erhalten sei unrealistisch. Gut wäre es, wenn Hans Modrow ein Vereinigungsprogramm vorlegen würde. Die Bedingungen dürfen nicht der BRD überlassen werden. Die Vier Mächte haben ein legitimes Recht sich am deutschen Prozess zu beteiligen. Niemand sollte damit rechen, dass ein vereinigtes Deutschland in der NATO eintritt. Die Anwesenheit der sowjetischen Streitkräfte wird das nicht zulassen.