"Soviel Politik wie die Politiker können wir auch"

Auskünfte und Ansichten von Bärbel Bohley, Mitbegründerin der Bürgerbewegung Neues Forum

Die FehrbelIiner Straße in Berlin verbindet nicht nur die Stadtbezirke Mitte und Prenzlauer Berg. Wer sie entlang geht, kommt durch eines jener Viertel, die in ihrer romantischen Verwahrlosung das arteigene Gesicht der gesamten Stadt mit prägen. Alte Arbeiterviertel gehasst und geliebt zugleich, zerbröckeln zusehends und sind dennoch voller Vitalität. In Kiezen wie diesem, so scheint es, ist Berlin sich selbst am nächsten.

Wer diese Straße entlangläuft, beginnt seinen Weg an der Ecke Schönhauser, an der Herz-Jesu-Kirche und kommt direkt zum Zionskichplatz. Eine Gegend, die im heißen DDR-Herbst des Jahres 1989 weit über die Grenzer des Landes hinaus bekannt wurde. Hinter diesen Fassaden schlug es auch, das Herz des Widerstandes gegen den real existierenden Stasi-Staat. In Häusern wie diesen wurde die Revolution geboren. Hier lebt sie noch heute, während das Land, befreit inzwischen von den Fesseln einer ebenso einfältigen wie hemmungslosen Diktatur, längst eigene Wege geht, die alles mögliche sind, nur nicht revolutionär.

In der FehrbelIiner Straße 91 in Ostberlin wohnt und arbeitet eine Frau, die wie kaum eine zweit, zum Symbol geworden ist tut die Basisopposition hierzulande.

Bärbel Bohley, sitzt mit uns in einer Art Wohn- und Arbeitszimmer unter einer tiefhängenden Lampe beim Kaffee. Da der Tisch ein runder ist, mag ein beziehungsreicher Zufall sein. Sie raucht noch immer viel, ist sonst aber gelöster, ruhiger, auch konzentrierter als noch vor einem halben Jahr, als ich sie zum ersten mal traf. Das war die hektische Zeit des Umbruchs damals. Ist sie heute abgeklärter, ernüchtert, enttäuscht gar? Oder einfach besser in Form?


Frau Bohley, viele identifizieren Sie mit den Bürgerbewegungen in der DDR. Sie gelten als eine Symbolfigur der Opposition. Wie kommt man zu dieser Rolle?


Das kann ich so gar nicht beantworten. Es ist jedenfalls nicht meine Rolle. Als in den Herbsttagen des vorigen Jahres das Neue Forum von sich reden machte, gab es natürlich jede Menge Interviewwünsche. Die Erstunterzeichner des Forum-Aufrufes waren zugleich sein erster Sprecherrat. So kam man auch häufig zu mir. Aber Leitfigur? Nein. Das ist ein Etikett, und Etikette stimmen selten.


Gut, dann frage ich nach Ihrem Lebensweg. Sie haben einen künstlerischen Beruf. Viele Ihrer Kollegen üben diesen Beruf einfach aus und leben nicht schlecht davon. Hat Ihnen das nicht ausgereicht?


Ich denke, bei jedem aufgeschlossenen Menschen kommt die Politik ganz von selbst ins Leben. Seit 1974 bin ich freischaffende Malerin. Von Anfang an habe ich engagiert im Künstlerverband gearbeitet. Da wollen immer alle irgendwas verändern. Allerdings habe ich im Verband auch schon frühzeitig Kollegen kennengelernt, denen es gar nicht so gut ging. Sie durften nicht veröffentlichen.


Kunst und Politik, Geist und Macht. Ein Problem, so alt wie die Menschheit. Sind Sie selbst auch angeeckt bei den Tempelhütern des "sozialistischen Realismus"?


Eigentlich weniger. Es war auch nicht sehr viel Kunstverstand auf der anderen Seite der Barrikade, so dass mich das kaum getroffen hatte. Schwierigkeiten hatte mein damaliger Mann. Er saß im Knast wegen Wehrdienstverweigerung. Das wurde dann auch bald mein Problem . . . 1982 beglückte uns unsere damalige Führung mit einem neuen Wehrdienstgesetz. Dieses Gesetz sah den Wehrdienst auch für Frauen vor, in speziellen Dienstverhältnissen. Das alles geschah in einer militanten Atmosphäre. Wehrerziehung an den Schulen, marschieren üben und so, Abgrenzung, aufgebauschte Feindbilder, Erziehung zum Hass. Das war für mich der Beginn in der Friedensbewegung.


Die Friedensbewegung hat damals europaweit Aufsehen erregt Uns wurde Friedenspolitik als Staatsdoktrin verkauft. Dennoch glaube ich, dass damals in der Friedensfrage eine ziemlich breite Übereinstimmung bestand zwischen Volk und Führung. Wen wollten Sie da noch mobilisieren?


Die Friedensbewegung hatte sich westeuropaweit organisiert. Hier sah das ganz anders aus. Sie mögen das Übereinstimmung nennen. Ich sage, die meisten Menschen bei uns haben einfach geschlafen, haben in ihren Nischen vor sich hingedämmert, nach der Maxime: Vater Staat wird schon richten. Das war eigentlich kein Wunder bei der Bevormundung all die Jahre. Wir wollten das Gewissen der Leute mobilisieren. Die Aufmerksamkeit schärfen, Empfindlichkeit wecken, das Thema Frieden vom Sockel holen, es zur Sache einfacher Menschen machen, denn es ist ihre Sache.


Die Resonanz war spärlich. Neben den offiziellen Zelebrationen, die eher Führerkult waren als Friedenskampf, fand eine echte Friedensbewegung doch wohl vor allem hinter Kirchenmauern statt. Hat Sie das nicht entmutigt?


Manchmal ein bisschen, aber nie so richtig. Vergessen wir nicht, dass der äußere Frieden einen inneren voraussetzt, dass er Freiheit erfordert, Demokratie. lnsofern standen wir gegen das Regime, gegen seinen perfektionierten Machtapparat. Davor hatten viele Menschen einfach Angst. Und das leider sehr zu Recht. 1983 wurde ich zum ersten mal von der Stasi verhaftet. "Staatsfeindliche Aktivitäten" hieß das. Sechs Wochen U-Haft in Hohenschönhausen. Internationale Proteste haben dann unsere Freilassung erzwungen.


Stasi-Knast, ohne Anklage, ohne Schuldnachweis, "selbstverständlich" auch keinerlei Entschädigung. Das war der Rechtsstaat, den sie meinten, die alten Herren, die heute um rechtsstaatliche Gnade winseln. Damals saßen sie fest im Sattel. Hatten Sie und Ihre Freunde nicht die Nase voll vom Knast?


Von Knast hat jeder die Nase voll. Aber so fest im Sattel saßen sie nie, unsere ruhmreichen Senilokraten. Sonst hätten sie ihre Schnüffler und Schläger nicht gebraucht. Uns brachte diese Sache eine wichtige Erfahrung. Im "Friedensstaat" DDR wurde Friedensarbeit kriminalisiert. Das war unerträglich. Jeder Mensch hat nicht nur das Recht, er hat die verdammte Pflicht, etwas für den Frieden zu tun. Für den äußeren wie für den inneren. Deshalb haben wir 1984 die "Initiative Frieden und Menschenrechte" gegründet. Zusammen mit Leuten wie Gerd Poppe, Werner Fischer oder Wolfgang Templin. Die Havemanns gehörten auch zu unserem Kreis. Des war der Einstieg in die organisierte außerkirchliche Friedensbewegung.


Januar 1988. Liebknecht-Luxemburg-Gedenkmarsch. Am Rande des verordneten Zuges plädierten einige Leute für die Freiheit, die immer auch die Freiheit Andersdenkender ist. Es gab Fernsehbilder, die um die Welt gingen. Die Leute wurden an Ort und Stelle samt ihren Transparenten von der Stasi aus dem Verkehr gezogen. Sie auch?


Nein. Ich war damals gar nicht dabei. Da waren vor allem Menschen, die ihr Ausreiserecht öffentlich einklagen wollten. Das war nicht mein Thema. Ich wollte immer bleiben und hier was verändern. Wir haben uns allerdings mit den Verhafteten solidarisiert. Wollten ihnen und ihren Angehörigen helfen. Hier in der Wohnung habe ich ein Kontakttelefon eingerichtet. Wir haben Nachrichten über den Verbleib der Festgenommenen gesammelt und weitergeleitet, haben Rechtsanwälte eingeschaltet und für Öffentlichkeit gesorgt. Das Ergebnis war, dass Ich erneut verhaftet wurde. Das Muster war klar. Die Stasi nutzte diese Demo, um alle Missliebigen auf einen Schlag loszuwerden, die auf der schwarzen Liste standen.


Also wieder Knast . . .


Wieder Hohenschönhausen. Gleiche Stelle, gleiche Zelle. Aber einiges war doch anders geworden. Die Kirchen als Versammlungsorte waren voll von protestierenden Sympathisanten. Beileibe nicht nur gläubige Menschen. Der Protest wurde damit öffentlich, auch hier im Lande selbst und das war gut. Dennoch kam zunächst nichts Positives heraus. Es folgten die Abschiebungen in den Westen. Viele haben statt der angedrohten langen Haftstrafen noch im Gefängnis lieber den Westpass genommen. Man wusste ja nicht, was kommt.


Ist so ein Gang über die Grenze nicht auch eine Kapitulation, ein Verrat an sich selbst? Da wollen Menschen ein Land verändern, und wenn es hart auf hart kommt, nehmen sie doch lieber einen Auslandsfahrschein. Und jetzt, wo alles anders ist, kommen sie nicht zurück.


Das muss jeder mit sich selbst ausmachen. Einige mögen entmutigt gewesen sein. Andere haben sich drüben eine neue Existenz aufgebaut. Einige sind wieder hier. Und was heißt "zurückkommen"? Wenn ich das richtig sehe, geht zur Zeit ein ganzes Land zurück nach Deutschland, oder?

Vergessen wir auch nicht die Abschiebepraxis. Bei Werner Fischer und mir lief das etwa folgendermaßen: Unser Anwalt, das war übrigens Wolfgang Schnur, und der war beteiligt an den Abschiebungen, also dieser Anwalt kommt jeden Abend in die Zelle, redet von Höchststrafe und sagt uns, wer von unseren Mitgefangenen heute wieder rübergegangen ist. Krawczyk und Klier waren weg, Ralf Hirsch, die Templins. So was zermürbt hinter Gittern. Fischer und ich haben schließlich den Pass nur unter der Bedingung genommen, dass wir nach einem halben Jahr zurück dürfen in die DDR. Und am 3. August waren wir beide wieder da.


Damit hatte der SED-Staat nicht gerechnet. Er hatte gedacht, er wäre Sie beide los. Wie war's damals im Westen? Großer Bahnhof, kann ich mir vorstellen, oder?


In der Bundesrepublik hat sich kein Mensch um uns gekümmert. Die Kirche nicht und nicht die etablierten Parteien. Auch nicht unser Anwalt Schnur. Dass wir zurückkommen konnten, verdanken wir einem anderen Anwalt: Gregor Gysi.

Wir wussten, dass wir uns in der DDR nun eindeutiger zu dem bekennen mussten, was wir sowieso waren: Opposition. Schon das Wort war damals verboten. Eine Organisation wollten wir schaffen, mit einer ersten programmatischen Plattform möglichst viele Leute erreichen. So kam es am 9. September 1999 zum Aufruf des Neuen Forums mit 30 Erstunterzeichnern.


Das Echo war beeindruckend. Das Neue Forum war in allen Nachrichten und in aller Munde. Der Aufruf, der ein erstes Programm war, wurde im Nu von Tausenden akzeptiert. Mit dieser Popularität hätten Wahlen gewonnen werden können. Aber Sie wollten nie eine Partei sein. Die Wahlen haben denn auch andere gewonnen. Hat das Neue Forum seine Chance verpasst?


Wir sind eine Bürgerbewegung und bleiben das auch. Was die Popularität betrifft, so vergessen Sie nicht die Situation vom Herbst 89. Die Lage im Land war dramatisch. Die Wirtschaft geht vollends in die Knie, über die Botschaften laufen die Menschen weg, und unsere hohen Herren schweigen sich aus. Dabei wusste jeder: Es muss etwas passieren. In Leipzig, in Berlin und anderswo beginnen die Demos die später berühmt und noch später berüchtigt wurden. Kein Wunder, dass innerhalb von sechs Wochen 250 000 Menschen den Forum-Aufruf unterschrieben hatten. Aber wir waren zu der Zeit ja auch nicht die einzigen. Dann diese idiotische Grenzöffnung, mit der das SED-Regime total zusammenbrach . . .


Pardon. Wieso idiotisch? Hatten nicht die Menschen auch Reisefreiheit eingeklagt? An den Grenzen war schließlich geschossen worden, Menschen waren gestorben. Bei Öffnung der Grenzen wurde gefeiert wie noch nie. Das war doch ein Sieg!


Na klar, ist das ein Sieg. Dass die Mauer endlich verschwindet, ist hervorragend. Aber wie das passierte, war chaotisch. Da lag ja auch viel Zündstoff drin. Alles ohne das geringste Konzept! Jedenfalls war nach dem Fall der Mauer das Regime am Boden. Es war aus. Nun bildeten sich pausenlos neue Parteien. Die Opposition zersplitterte sich. Die Entwicklung war ins Rasen gekommen. Kein Mensch hatte das Tempo mehr unter Kontrolle, aber die Richtung wurde immer klarer. An Kohls 10-Punkte-Plan schieden sich die Geister der Opposition. Dieser Plan bot auch ganz anderen einen Hafen. Selbst Modrow sprach von "Deutschland, einig Vaterland". Als dann, entgegen der Empfehlung des Runden Tisches, all die West-Wahl-Redner hier das Programm bestimmten, war für eine eigenständige, bessere DDR der Ofen aus.


Der Ofen war aus. Sie sagen das mit Wehmut, wie mir scheint. Wollten Sie diesen Staat denn erhalten? Sie, die Sie doch jahrelang gegen alles aufgetreten waren, was die DDR ausmachte? Der Begriff "Sozialismus" kam doch gar nicht vor im Forum-Aufruf.


Das Wort "Wiedervereinigung" aber auch nicht. Natürlich wollten wir eine eigenständige DDR erhalten. Wir wollten auch Sozialismus, einen richtigen, einen demokratischen. Nur, damit konnte man doch keinem mehr kommen nach 40 Jahren stalinistischer Diktatur, die den Sozialismus-Begriff zuschanden gemacht hatte.


Nur den Begriff? Mir scheint, die Wahl vom 18. März hatte eine klare Sprache. Wie haben Sie persönlich das Wahlergebnis erlebt?


Für viele von uns, auch für mich, war es eine Katastrophe. Ohne Übertreibung kann man sagen, dass es ohne uns diese Wahlen gar nicht gegeben hätte. Ich hatte mehr politisches Bewusstsein erwartet. Wir hatten die Revolution mit auf den Weg gebracht - und dann das. Aber das war ja auch keine Wahl, sondern eher eine Volksabstimmung gegen das Alte. Als solche muss man sie wohl akzeptieren.


Und wie weiter mit den Bürgerbewegungen? Mit dem Neuen Forum? Haben sie ihre historische Schuldigkeit getan und treten nun ab von der politischen Bühne? Bleibt überhaupt noch etwas zu tun, was Parteien nicht viel besser können?


Wir haben nicht nur Wahlen hinter uns, wir haben auch Wahlen vor uns. Einige Mitmenschen dürften inzwischen auf schmerzhafte Weise wach geworden sein. Ich hoffe das wenigstens. Eine Tendenz im übrigen, die sich eher noch verstärken kann. Bei den Volkskammerwahlen hatte unser Bündnis '90 ohnehin nicht viel zu erwarten. Aber immerhin haben uns 360 000 Menschen gewählt. Jetzt geht es in die kommunalen Bereiche. Hier sind die Probleme für den Bürger hautnah. Gleich hier um die Ecke wollen Eltern einen Kindergarten am Leben erhalten. Mieterinitiativen entstehen. Da sind die Bürgerbewegungen mittendrin. Um so was kümmern sich die großen Parteien selten. Das lässt sich schlechter zu tönender Politik verarbeiten, mit der man ins Fernsehen kommt. Aber es ist das tägliche Leben der Menschen.


Demnach hat das Neue Forum eine Zukunft. Gibt es möglicherweise auch eine Zukunft für die Politikerin Bärbel Bohley?


Politikerin - das klingt so hochgestochen. Andererseits, soviel Politik 'wie die Politiker können wir auch. Wann man erst mal in die Lage gekommen ist, einem Herrn Mitterrand oder einem Herrn Kennedy zu erklären, was da eigentlich läuft in der fernen DDR, verliert man viel von seiner falschen Hochachtung. Die kochen auch bloß mit Wasser. Wir sollten uns ruhig weiter einmischen. Es passieren ja die tollsten Dinge. Durch die Auflösungsprozesse im Osten ist die gesamte westeuropäische Linke betroffen. In Italien will die IKP das Wort "kommunistisch" aus ihrem Namen streichen, und der Papst macht eine Enzyklika fürs gesellschaftliche Eigentum. Da steht doch einiges auf dem Kopf.

Nein, wir müssen weitermachen. Unsere Interessen sind am besten vertretet, wenn wir das selber tun. Wir haben schließlich auch politische Kultur einzubringen. Denken Sie nur an unsere wunderbaren Rundet Tische. Soviel echte Demokratie hat es in Deutschland niemals gegeben. Vorher nicht und nachher leider auch nicht mehr.

Gespräch: Michael Richter

Tribüne, Fr. 27.04.1990

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