Ein Jahr nach der Demo vom 4. November 1989 auf dem Berliner Alex im Gespräch mit Bärbel Bohley

"Die Straße ist für mich immer noch wichtigster politischer Ort"

Frau Bohley, Sie sind eine der politischen Symbolgestalten dieses 4. November und der Wende. Wie sind Sie mit dieser Rolle bis heute fertig geworden?

Ich hoffe, dass ich damit ganz gut zu Rande gekommen bin, weil ich das nicht so ernst genommen habe, dass ich als Person nun furchtbar wichtig dabei war. Dass ich 1988 rausgeschmissen wurde aus der DDR und dann wiedergekommen bin, war wohl noch ein bisschen im Bewusstsein der Leute.

Vielleicht hätten aber andere Menschen in einer Situation, als das Neue Forum noch mit einem Verdikt durch Herrn Mielke belegt war, nicht so viel Mut aufgebracht wie Sie?

Das mag sein. Aber es findet sich immer jemand, wenn die Situation jemanden dafür braucht. Wahrscheinlich hatte ich zu die er Zeit ein Gefühl für diese Stimmung unter den Massen. Denn es war ja völlig klar, dass sich was ändern musste, und dass man, wenn man ins Gefängnis kam, nicht allzu lange da drin sitzen würde. Nicht ruhig bleiben, nicht auf Gerechtigkeit warten, selber was tun, das ist meine Art, meine Lebenseinstellung – auch heute noch.

Einer Ihrer großen Verbündeten damals war ja die Kirche. Wie stehen Sie denn selber zum Glauben?

Ich bin nicht kirchlich gebunden. Und ich muss dazu sagen, dass ich gerade in jüngster Zeit einen großen Abstand zur Kirche gewonnen habe, weil sie meiner Meinung nach seit dem 4. November versäumt hat, grundsätzlich zu unserer Situation Stellung zu nehmen und eine Orientierung zu geben. Sie hätte Reflexion in die Gesellschaft bringen müssen. Das hätten wir gebraucht in diesen wirren Monaten. Und noch viel mehr bin ich darüber aufgebracht - durch meine Arbeit im Roten Rathaus stoße ich jetzt auf solche Dinge -‚ dass durch die Staatsmacht die Kirchensteuer eingetrieben werden kann. Denn ich bin konsequent für eine Trennung von Staat und Kirche. Leider haben aber in der alten Volkskammer einige Pfarrer eine Politik gemacht, die für mich mit christlicher Ethik wenig zu tun hat. Und wenn man dazu sieht, wie sie sich jetzt privat im Leben eingerichtet haben kann einem endgültig der Kaffee hochkommen.

Sie haben immer betont, das Neue Forum sei keine Partei, sondern eine parteienübergreifende Bewegung. Haben Sie aber nicht gerade dadurch viel an politischer Handlungsfähigkeit und Einflussnahme verloren?

Nachträglich sehe ich das alles ein bisschen anders als damals. Da dachte ich noch, wir haben die Stunde verpasst, und wir hätten vielleicht wirklich die Möglichkeit gehabt, die Macht zu bekommen. Nachträglich muss ich sagen, dass es schon richtig war, dass wir das nicht gemacht haben, weil nämlich der Zustand, in dem sich die alte DDR-Gesellschaft befand und im Grunde immer noch befindet, für mich zum Teil ganz schön erschreckend ist. Die Menschen wollen eigentlich was Gutes für sich und die Gesellschaft, aber das ist überhaupt nicht zu realisieren. Sie wollen eigentlich Demokratie und merken gar nicht, wie undemokratisch sie sich verhalten. Ich habe einfach die Menschen für bewusster gehalten. Sie sind aber sehr viel autoritätsgläubiger, viel mehr abhängig von zentralistischen Strukturen, was ja auch begreiflich ist nach dieser Vergangenheit. Insofern denke ich, war die Gesellschaft vielleicht gar nicht darauf vorbereitet, diese andere demokratische DDR im Gegensatz zu der alten stalinistischen zu realisieren. Vielleicht hätten wir überhaupt keine andere, sondern wieder dieselbe furchtbare Politik gemacht.

Aber sehr viele Menschen hofften doch bereits, dass das Neue Forum eine Art Plattform der neuen Gesellschaft hätte werden können, was aber ohne Macht nicht gegangen wäre.

Dazu muss man nun auch mal sagen, dass die alte Opposition damals nicht sehr groß war, dass es keine gewachsene Bürgerbewegung gab, sondern nur eine spontan entstandene. Außerdem - wir wollten die Demokratisierung der Gesellschaft, das war uns wichtiger als Macht ausüben. Ich bezweifle nach wie vor, dass Demokratisierung der Gesellschaft von oben durchgesetzt werden kann. Das muss von unten wachsen.

"Ich will kein kapitalistisches Deutschland, ich will keine Profitgesellschaft", haben Sie noch Ende November 1989 erklärt. Und was nun?

Damals hatte die Gesellschaft bereits eine andere Intention als die Opposition. Wer hätte denn diese Intention noch kippen oder in eine andere Richtung lenken können, wo doch Herr Modrow schon sehr früh vom "einig Vaterland" geredet hat? Das wäre doch wieder nur mit Macht möglich gewesen, und dabei wären wir wohl ohne Blutvergießen nicht ausgekommen.

Was erhoffen Sie sich nun von der Demo am 4. November in diesem Jahr, zu der Sie mit aufgerufen haben?

Ich beobachte seit längerem eine Depression in der Gesellschaft, und ich finde, dass wir die eigentlich nicht nötig haben. Wir haben eine ganze Menge erreicht im letzten Jahr, und dass die Entwicklung nun eine ganz andere Richtung angenommen hat, als sich das etliche Leute gewünscht haben, ändert doch erst mal nichts daran. Eine andere Frage ist, ob ich versuche, diese Entwicklungsrichtung mitzugestalten, und das sollten wir auf jeden Fall machen und uns nicht einfach wieder in unsere Nischen verkriechen.

Und mit welchen konkreten Mitteln?

Indem wir auf der Straße, dem für mich immer noch wichtigsten politischen Ort, unsere Meinung äußern. Denn dort wird man immer noch am meisten gesehen. Und ich finde es schon wichtig, dass diese Forderung nach sozialer Gleichheit in ganz Deutschland zu unserer wichtigsten Forderung überhaupt in nächster Zeit werden muss.

Wobei ja die Straße für Herrn Kohl jedenfalls nach der Wende kein Thema mehr zu sein scheint. Nicht selten hört man ja aus dieser Richtung Schimpfwörter wie "Extremisten" und "Pöbel".

Damit muss sich nun dann der Herr Kohl abfinden, dass es in der alten DDR ziemlich viel Pöbel gibt. Und dass sich in Deutschland jetzt eine starke Opposition entwickeln wird, die ja vorher gefehlt hat. Und wir brauchen diese Opposition ganz dringend, weil ja die Menschen hüben wie drüben auf lange Sicht einfach nicht fertig werden mit den Folgen dieser irrsinnig schnellen Wiedervereinigung und den Folgen für ihren inneren Zustand. Denn die psychologischen Auswirkungen der neuen Situation halte ich noch für viel verheerender als die Ökonomischen.

Wie groß ist denn Ihre Bürgerbewegung jetzt? Gibt es Zahlen?

Wir haben jetzt ungefähr 15 000 Mitglieder. Aber im Moment ist noch eine Umschichtung der politischen Kräfte zu registrieren, insofern ist das keine feste Zahl. Außerdem kommen jetzt Sympathisanten aus den alten Bundesländern noch zu uns.

Vor kurzem haben Sie verlangt, Erich Honecker dürfe nicht von BRD-Richtern abgeurteilt werden, sondern gehöre in ein Altersheim. Warum denn diese Milde?

Ich denke mir, dass Erich Honecker nicht viel mehr Schuld hat als viele andere in diesem früheren Staat. Und ich hasse es, wenn er von allen nur möglichen Leuten jetzt abgestempelt wird, damit die sich dann eine reine Weste machen können - im Osten wie im Westen. Natürlich ist er die Symbolfigur gewesen für dieses System, und ich halte auch den Volkszorn gegen ihn für verständlich. Er sollte nicht mehr Rente kriegen als jeder andere Mensch in diesem Land, und ansonsten ist er ein alter Mann. Und die wirklich Schuldigen sind nämlich noch gar nicht gefunden, die gibt es nämlich immer noch, und die sind schon wieder sehr am Wirbeln in allen möglichen Ecken und Enden.

Sie meine diese "Seilschaften der Stasi"?

Die meine ich schon. Die halte ich für etwas gefährlicher als Erich Honecker. Und da müssen wirklich alle Laute, in diesem Lande aufpassen, nicht nur das Neue Forum, damit der Deckel zubleibt, woraus das mal gekommen ist.

Wenn Sie – nach einem Heine-Wort – an Deutschland denken in der Nacht oder bei Tag, welche Zukunftsbilder fallen Ihnen ein?

Ich meine, die Zukunft ist ungewiss. Ich sehe zu viel Gefahren für die Zukunft. Schon diese Äußerung, dass wir mit Blick auf Europa die Wiedervereinigung betrieben haben, das stimmt doch alles nicht. Wir machen die Grenzen zu Polen dicht, ohne dass unsere eigenen Abgeordneten dagegen lauthals protestieren, wir lassen Sinti und Roma draußen, wollten eine Quotierung für die sowjetischen Juden, die nach Deutschland kommen. Natürlich erwachsen daraus Probleme, aber die Probleme entbinden uns doch nicht davon, wirklich europäisch zu denken und zu handeln. Das glaubt uns doch sonst keiner da draußen. Ich finde, wir sollten endlich aufhören mit dieser Abschottung, mit dieser ewigen Selbstbespiegelung. Wir haben jetzt endlich die Reisefreiheit, und das sollte uns auch dazu verhelfen, Fremdes nicht unbedingt als etwas Feindliches zu empfinden. Wir Deutschen sollten uns neugierig machen auf andere, das stünde uns gut zu Gesicht.

Wann hielten Sie Ihre politische Arbeit für beendet, um ganz locker zu Pinsel und Leinwand zurückkehren zu können?

Wenn man nur noch funktionierte, dann müsste man schon ganz schnell aufhören. Aber soweit ist es noch nicht. Jede Sache braucht ihre Zeit, und es ist für mich jetzt nicht die Zeit zum Malen. Und ich bin mit meiner Situation durchaus einverstanden. Weil das, was ich jetzt mache, augenblicklich viel wichtiger ist, weil nämlich jetzt die Weiden für unsere Zukunft gestellt werden.

Ist Ihnen übrigens schon aufgefallen, dass Ihr Name das berühmte B. B.-Kürzel hat wie der von Brigitte Bardot oder Bert Brecht?

Nein, das überrascht mich. Darauf ist noch keiner gekommen. Aber na wunderbar!

Liebe Frau B. B., Ich danke Ihnen herzlich für das Gespräch.

Das Gespräch führte
ROLAND MÜLLER

Neues Deutschland, Fr. 02.11.1990

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