UdSSR-Außenminister Eduard Schewardnadse hat unmissverständlich klargemacht, dass die Sowjetunion Stabilität und Sicherheit für die Staaten Europas als vorrangige Aufgabe ansieht. In einer Rede am Dienstag in Brüssel vor der Politischen Kommission des Europaparlaments hob er den positiven Charakter der Veränderungen hervor, die sich auf dem Kontinent vollziehen, und konstatierte eine Vertiefung der Beziehungen zwischen Ost und West. Man könne jetzt, so Schewardnadse, von der Existenz der Elemente eines einheitlichen europäischen Rechtsraumes sprechen, der sich auf internationale Verträge stützt.
Eindringlich warnte der Außenminister davor, die bestehenden Realitäten außer acht zu lassen. Der sowjetische Außenminister ging ausführlich auf die Problemstellung ein, wie man über diese oder jene Formen einer deutschen Einheit oder über praktische Wege zu ihrer Herstellung reden könne, solange keine Klarheit bei einer ganzen Anzahl lebenswichtiger Fragen besteht. Dabei nannte er im einzelnen:
1. "Wo sind die politischen, gesetzlichen und materiellen Garantien, dass die deutsche Einheit nicht in Zukunft eine Bedrohung für die nationale Sicherheit anderer Staaten und für den Frieden in Europa schafft? Auf diese Frage gibt es keine Antwort."
2. "Wird solch ein hypothetisches Deutschland, wenn es mit der Zeit Formen annimmt, bereit sein, die bestehenden Grenzen in Europa anzuerkennen und auf jedwede Gebietsansprüche zu verzichten? Wie bekannt, weicht die Regierung der BRD einer Beantwortung dieser Frage aus."
3. "Welchen Platz würde dieses nationale deutsche Gebilde in den militärpolitischen Strukturen, die in Europa existieren, einnehmen? Schließlich kann man nicht ernsthaft erwarten, dass sich der Status der DDR radikal ändert, während der Status der BRD derselbe bleibt."
4. "Wenn die deutsche Einheit Formen annimmt, was wäre das militärische Potential eines solchen Gebildes, seine Militärdoktrin und die Struktur seiner Streitkräfte? Wird man bereit sein, eine Entmilitarisierung zu akzeptieren, einen neutralen Status anzunehmen und die wirtschaftlichen und anderen Beziehungen mit Osteuropa grundsätzlich umzustrukturieren, wie es in der Vergangenheit beabsichtigt war?"
5. "Wie würde die Haltung gegenüber der Präsenz von alliierten Truppen auf deutschem Boden, gegenüber einer fortgesetzten Tätigkeit der militärischen Verbindungsmissionen und gegenüber dem Vierseitigen Abkommen von 1971 aussehen?"
6. "Wie wird sich die mögliche Schaffung eines solchen deutschen Gebildes mit dem KSZE- Prozess vereinbaren und würde sie zu dessen konstruktiver Entwicklung in Richtung auf die Überwindung der Spaltung Europas, zur Beseitigung beliebiger Diskriminierung in den Beziehungen zwischen den europäischen Staaten und zu weiterem Fortschritt bei der Schaffung eines einheitlichen Rechts-, Wirtschafts-, Umwelt-, Kultur- und Informationsraumes in Europa beitragen?"
7. "Werden die deutschen Staaten, wenn sie sich in dieser oder jener Form für den Beginn eines Prozesses zur Einheit der Deutschen aussprechen, bereit sein, die Interessen der anderen europäischen Staaten zu berücksichtigen und auf kollektiver Grundlage nach gegenseitig annehmbaren Lösungen für alle Fragen und Probleme zu suchen, die in diesem Zusammenharn auftreten können, darunter einem europäischen Friedensabkommen?"
(Der Morgen, Do. 21.12.1989)