Zerreißprobe

Die Spaltung des NEUEN FORUM schreitet unaufhaltsam voran. Die Diskussion zeigte klare Fronten: es gibt eine Minderheit mit Schwerpunkt bei den Gründern des NEUEN FORUM und eine Mehrheit. Diese Tendenz ist fast so alt wie das NEUE FORUM selbst, und sie scheint für eine so breite Bewegung auch unvermeidlich.

Die Initiatoren des NEUEN FORUM stehen für emanzipatorische, traditionell linke Positionen. Im revolutionären Schwung des Herbstes fand ihr "Aufbruch '89" enormen Zulauf, der die gemeinsame Opposition gegen das SED-Regime und seine lähmende Wirkung auf die Gesellschaft ausdrückte. Gemeinsamkeit jedoch, die sich in der Opposition dieser Situation gegenüber erschöpft, trägt spätestens seit dem Fall der Mauer nicht mehr. Und so entsteht eine wachsende Mehrheit, orientiert an Inhalten, die die Programmdiskussion bestimmten. Die Schwerpunkte der Debatte: das Bekenntnis zur Einheit Deutschlands, die Notwendigkeit der Marktwirtschaft. Die Betonung der gegenwärtigen Zweistaatlichkeit, mit der Spielraum für den Aufbau einer basisdemokratischen Struktur in Wirtschaft und Gesellschaft geschaffen werden soll, bildete den Kern des Programmentwurfs, den die zuständige Kornmission angeboten hatte. Dieser Kerngedanke wurde mehrheitlich verworfen. Die Versammlung beschloss ein Grundsatzprogramm, das die Vereinigung beider deutscher Staaten und die Marktwirtschaft, verbunden mit sozialen Absicherungen, anstrebt.

Für die Minderheit lief das Fass über - die monatelange Verschiebung der Stimmung an der Basis vor Augen - als durch Mehrheitsbeschluss das Vetorecht der Betriebsräte gestrichen wurde. Demokratie in den Betrieben ist einer ihrer Eckpfeiler, und hier gewann das freie Unternehmertum, das die Marktwirtschaft bedroht sah. Das Ergebnis wird ein Gegenprogramm der Minderheit sein. Die Auseinandersetzung hat jetzt klare Ausgangspositionen. Daran wurde schon jetzt jeder, der auf der Gründungsversammlung eine Stimme hatte, gemessen: an Ablehnung des beschlossenen Programms oder Zustimmung zu ihm. Auf diese Weise wird sich aus dem Höhenflug des Aufbruchs alltägliche Politik vielleicht noch entwickeln lassen. Die gestressten Neupolitiker werden sich wohl oder übel den Mühen der Ebene aussetzen müssen. Dass übrigens die Sachkompetenz nicht zugunsten der Mehrheit verteilt ist, bewies die Abstimmungsrunde zur Besetzung des Runden Tisches. Dort verhandeln auch in Zukunft dieselben, der Minderheit zuzurechnenden Akteure, ergänzt durch zwei weitere, die als typische Vertreter der Mehrheit zu bezeichnen durchaus übertrieben scheint. Nach außen wird das NEUE FORUM weiter als politische Kraft von einigem Einfluss wirken, auch wenn Programm und Verhandlungsführer nur noch mühsam in Übereinstimmung zu bringen sind.

Reinhard Weißhuhn

die andere Berlin, Nr. 2

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