Dokumentation

DDR ist kein Pleitier, der den Konkurs unterschreibt

Jens Reich: Die deutsche Vereinigung muss ein Vertrag unter Partnern sein, nicht ein Geschenk, das im Gnadenverfahren erteilt wird

Erst war die Vereinigung ein ferner Traum, für manchen ein Alptraum. Dann kam sie als Heiratsantrag, verlockend und ein wenig beängstigend: Werde ich mich trotz meiner schmalen Mitgift behaupten können? Schließlich wurde sie eine Fahrt auf dem heulenden Nothilfewagen, die Einleitung einer Sturzgeburt.

Willy Brandt hat uns in seiner plastischen Sprache den Wechsel deutlich gemacht. Um die Jahreswende prägte er vor begeisterten Rostockern die Formel vom zusammenwachsen dessen, was zusammen gehört. Seitdem rollt für ihn der Zug zur Einheit, und es kommt darauf an, dass niemand unter die Räder gerät. Dieses neue Bild will mir gar nicht gefallen. Wem ist hier zugedacht, in guter Ordnung zurückzubleiben und dem Zug nachzuwinken?

Ich habe hier auch ein persönliches Problem. Wir haben den Aufbau einer eigenen politischen Kultur verpasst und den dünnen Aufguss der westdeutschen Parteienlandschaft eingeschenkt bekommen. Und bereitwillig ausgetrunken. Es wird unsere mehrheitliche freie Entscheidung gewesen sein. Man kann der Luft nicht verbieten, ins Vakuum zu strömen. Und dennoch: Es war die SPD, die den Wettlauf mit einem furiosen Start eröffnet hat. Wie beim Kinderspiel mit dem Ruf: Wer zuerst da ist! und schon hat er zwanzig Meter Vorsprung. Ost-SPD über fünfzig Prozent und die West-SPD vor einem Erdrutschwahlsieg: Das war die Fata Morgana, der man das Reformbündnis der Opposition geopfert hat. Mich schmerzt, dass gerade die SPD, der ich mich über Jahrzehnte so nahe fühlte, diese Entwicklung forciert hat.

Den Coup mit der Währungsunion und den anderen schnellen Vereinigungen verstehe ich als Versuch Kohls, den Gordischen Knoten zu zerhauen, den sonst niemand entwirren wird. Sein Argument ist: Zweitausend reisen täglich ab, Gorbatschow runzelt die Stirn, und wenn wir noch lange warten, dann haben wir in Irland, Malta und Monaco Abstimmungen über die deutsche Wiedervereinigung. Hier müssen Tatsachen her, dann hört auch das ganze leere Gerede mit den sozialen Sicherheiten und Ängsten auf. Deshalb Schluss mit Vertragsgemeinschaften und konföderativen Strukturen.

So mögen viele rechnen. Und sie rechnen ohne den Kunden. Sie werden sich wundern. Es gibt schon Beispiele. Neulich gab es ein Gerücht, dass Schulhorte und Schulspeisungen abgeschafft werden sollen (sie sind wirklich teuer und oft schlecht, aber für viele unverzichtbar) - sofort gab es Straßendemonstrationen. Dieselben, die von gesamtdeutscher Rührung erfüllt sind, wenn eine Kundgebungsrede ans Herz geht, werden sich lautstark zur Wehr setzen, wenn es an ihren sozialen Besitzstand gehen sollte, an Wohnungsmieten, Renten, Sparkonten, ans bezahlte Babyjahr mit Arbeitsplatzgarantie, an das nach Bundesrecht anfechtbare Grundstück. Es sollte sich auch niemand der Illusion hingeben, dass die Verwerfungen auf dem Arbeitsmarkt mit möglicherweise Millionen Arbeitslosen, ohne gigantischen Sozialkrach über die Bühne gehen können. Wir leben nicht mehr in den fünfziger Jahren!

Ich bin der Meinung, dass die Struktursanierung unserer Wirtschaft bei faktisch aufgewerteter Währung eine Eisenbartkur ist und bemerke, dass Wirtschaftler und Banker gleicher Meinung sind. Mich wundert allerdings, wie schnell Fachleute bisweilen umzustimmen sind: montags noch stramm gegen sofortige Währungsunion, donnerstags schon voll dahinter!?

Der Einigungsprozess geht nicht ohne eine eigene Verfassung. Unsere augenblickliche ist Altpapier; es muss eine neue her, wenigstes ein Entwurf, sonst verhandeln wir tatsächlich nur über Beitritt unterem paar gnädig gewährten Sonderkonditionen. Das Grundgesetz kennt nicht die neuere Entwicklung der Menschenrechte und des ökologischen Rechts der Natur, und andererseits enthält unsere Verfassung eine Reihe von Elementen, die wir behalten wollen, und andere, deren Verwurzelungen wir aus unserem Gesellschaftsleib nicht schmerzfrei ausreißen können. Gewährleistung von Eigentum als Grundrecht zum Beispiel, mag gut und recht sein, und es ist viel Unrecht dagegen geschehen, das gutgemacht werden muss, etwa Zwangsenteignung von jüdischem Vermögen vor 1945.

Aber die Folgen der entschädigungslosen Enteignung der Fabriken und der Bodenreform kann man nicht einfach wie Unkraut ausrotten, denn es gibt zwei Generationen, die mit einer anderen Eigentumsordnung gelebt haben (ob sie gefragt wurden oder nicht), die das Land am Leben hielten und jetzt moralische Besitzrechte erarbeitet haben. Den Menschen hier war der Erwerb von Eigentum weitgehend verwehrt, ihnen wurde vorgegaukelt, sie hätten Anteil am fiktiven Volkseigentum, an Produktionsmitteln, und sie hatten lediglich das soziale Grundrecht auf kommunalen Wohnraum und auf Arbeit.

Wir brauchen auch eine Betriebsverfassung, deren Mitbestimmung über die der bundesrepublikanischen Gesetzlichkeit hinausgeht. Ich weiß, dass hier viele protestieren. Aber wir sind durch Jahrzehnte ökologische Willkür und Plandiktatur gezeichnet, und wir wissen auch, dass die meisten es bis aus weiseres mit den selben Managern zu tun haben werden, die bisher die Kennziffernwirtschaft durchgezogen und sich um Belegschaft und Kommune einen Teufel geschert haben. Wir wollen sie nicht in den starken Entscheidungskompetenzen nach Art der westlichen Chefetagen sehen, sondern Kontrollrechte haben und mitentscheiden, ob sie noch tragbar sind.

Ich gehöre nicht zu denen, die über die versäumte Chance einer Zweistaatlichkeit klagen. Allerdings ist die Vereinigung für mich ein harter Handel, und man wird mir gestatten, dass ich dem Pferd nicht nur auf das gestriegelte Fell, sondern auch ins Gebiss schaue. Wir haben das deutsche Land über vierzig Jahre gehalten. Wären wir alle fortgelaufen, dann wäre es jetzt eine Wüste oder die Neukolonie von irgend jemandem. Wir haben uns selbst aus den Ketten befreit, während andere auf uns warteten und ganz gut ohne uns auskamen....

Wir sind nicht der Bankrotteur, der den Konkurs unterschreibt und vor dem Verhungern bewahrt wird. Die deutsche Vereinigung wird ein Vertrag unter Partnern sein, und eure Investitionen sind Business wie vieles andere, nicht Gnadengeschenke. Langfristig ist es auch für euch von Vorteil, wenn es fair zugeht und niemand über den Tisch gezogen wird.

Wie wird Deutschland aussehen? Ich habe eine Vision und weiß trotzdem wie die Wirklichkeit sein wird. Herrgott, könnte Deutschland ein beneidenswertes Land sein! Es liegt in der Mitte Europas, ein reiches Land, mit Bewohnern, die unaufgefordert arbeitsam sind. Es hat eine wunderbare Kultur, eine herrliche Sprache, auch manchem seiner Nachbarn zu eigen, eine Sprache, die knorrig den Widerstreit zwischen bodenständiger Härte und weltläufiger Anpassung aushält. Alle hätten gern ein gastfreundliches Deutschland in ihrer Mitte, ein Drehkreuz von Geschäften und Kulturen; nicht als Machtzentrum wollen sie uns, sondern als Schmelztiegel, der alle Widersprüche aufnimmt und produktiv macht....

Nach fast 50 Jahren Pseudo-Sozialismus sind 16 Millionen Deutsche reif für die Rückkehr zu den liberalen Idealen, die in Europa unter die Mühlsteine geraten waren. Dabei bringen sie eine Erfahrung mit, die sie mit den Völkern Osteuropas teilen, bis in die Verständniswurzeln hinein, bis in Andeutung im Gespräch.

Wir kehren gemeinsam von einer unfreiwilligen Expedition zurück, die gescheitert ist, uns aber freier und geistig reicher gemacht hat. Und wir sollten uns mit dem verschwitzten Hemd nicht gleich die Haut vom Leibe reißen, um dann mit (geistigen) Verbrennungen dritten Grades am Tropf zu hängen: Wir sind etwas wert, wir haben uns befreit, wir haben Elemente der gesellschaftspolitischen Kultur des neuen Jahrtausends entworfen; wir wollen nicht gnädig aufgenommen und ins mittlere oder untere Schiffsdeck verwiesen werden. Wir werden mitreden, wenn es um die Zukunft geht, die das heutige Gesellschafts- und Industriemodell des Westens jedenfalls nicht unverändert meistern wird. Westeuropa braucht auch Osteuropa, seine Menschen, seine Ideen und Entwürfe.

Ich weiß natürlich, dass das alles noch Hoffnung ist. Im Augenblick herrscht das nationale Fieber, und es kümmert die meisten unter uns wenig, welche Folgen der Hochzeitsrausch haben wird, einen freudigen Aufschwung oder den Katzenjammer. Aber der Alltag wird kommen, und mit ihm die Herausforderungen, die auch wir Deutsche bestehen müssen, wenn die Menschheit das 21. Jahrhundert überleben soll. Da sollten wir die Nachbarn nicht vergessen, mit denen wir Freud und Leid, gemeinsame Not, Streit und Freundschaft geteilt haben.

Ein persönliches Bekenntnis. Mit meinem Kopf bin, ich immer noch in der alten Zeit. Auf Schritt und Tritt ertappe ich mich bei Kalkulationen, in denen "die DDR" eine Rolle spielt, dieses Land, in dem ich auf wuchs, Familie und Freunde hatte, aus jugendlicher Unbekümmertheit dortgeblieben bin - "weil man den Weggang ja immer noch würde wählen können". Schließlich saß ich in der Fallgrube, wie so viele andere. Nur die Aktivsten befreiten sich, und nur mit Wunden und Narben. Wir blieben, lebten dahin und machten eine Tugend aus der Not. Wir versuchten uns zu trösten: Zu Zeiten des Großen Kurfürsten konnten die Berliner auch nicht den Markusplatz von Venedig besuchen.

Noch kann ich nicht fassen, dass es die Freiheit gibt, dass die Stasi und die Bürokratie nicht mehr die Fesseln schnüren (manche glauben ohnehin an eine Verschwörung).... Vielen wird es wie mir ergehen: Soll ich weitermachen wie bisher, in meinem wissenschaftlichen Beruf, den ich brav ausgeübt habe, nicht unbegabt, den ich aber letzten Endes ausgewählt habe als marxismus-leninismus-freie Schutzzone? Oder soll ich furios durchstarten und mit Fünfzig das anfangen, was mir mit Zwanzig verwehrt blieb? Schreiben, Reden, Denken, Kämpfen? Oder ist mir das Schneckenhaus angewachsen, schleppe ich es bis ans Lebensende hinter mir her?

Ich muss gestehen, dass mir die kühne Entscheidung leichter fiele, wenn es die DDR weitergeben würde. Ihr Kollaps kam noch unerwarteter als der Zusammenbruch des Systems. Und wenn ich schon, mit Schreib- und Redetalent, mit dem aktiven Besitz von vier Sprachen und dem für den Notfall immer noch hinreichend krisenfesten Computerberuf in der molekularen Genetik so unsicher vor dem Fallschirmsprung bin, wie besorgt müssen da die Menschen um mich herum sein, denen ihr Beruf fest an den Leib gewachsen und doch durch den Umschwung in die Krise geraten wird?

Vieles an uns mag dilettantisch wirken, kindlich. Die Malerei von Kindern ist ungelenk, aber unbefangen und überraschend originell. Sie sollte nicht achtlos übergangen werden. So auch unser politischer Aufbruch: Er ist auch für die Bundesrepublik eine Chance.

die tageszeitung, DDR-Ausgabe, Fr. 30.03.1990

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