Aber jetzt ist Alltag . . .

Jens Reich

Die romantische Phase der Revolution ist vergangen. Die sie miterlebt haben, ob in der Demonstration oder am Fernsehbildschirm, werden diese Tage nicht vergessen. Sie gehören zu den wunderbaren Augenblicken der deutschen Geschichte, in denen „das Volk" als handelnde Einheit mit Phantasie und Entschlossenheit sein Geschick selbst bestimmt hat, nach 45 Jahren (und mehr) der Fremdbestimmung, der Kleinmütigkeit, der Feigheit, der Anpassung, der Resignation. Wem das aus dem Munde von Jens Reich zu pathetisch klingen mag: Ich habe Ausländer zitiert, aus deren Munde ich das im Gespräch ohne Öffentlichkeit, ohne Kameras, so oder ähnlich gehört habe, den französischen Präsidenten, den polnischen Ministerpräsidenten, den amerikanischen Senator, den sowjetischen Journalisten, den britischen Historiker.

Berlin steht nicht schlecht da in diesen Tagen. Es hat in den Tagen der Gewalt die Demos und Mahnwachen rund um die Gethsemanekirche zustande gebracht und die große Demonstration der Hunderttausende am 4. November, die den Fall der Mauer mit auslöste. Unauslöschlich in meiner Erinnerung sind die ernsten, jungen Gesichter, geadelt durch die Größe der Gefahr und die Bedeutung ihres Anliegens, die sich den bewaffneten Reihen der herbeikommandierten Schergen (vielen war ihre Scham und ihr Unbehagen anzusehen, auf die falsche Seite befohlen zu sein) und der furchterzeugenden "schweren Technik" entgegenstellten und mit dem hilflos-eindrucksvollen Symbol der brennenden Kerze auf dem Asphalt die Schwelle markierten, die die Gewalt nicht überschreiten sollte.

Aber abseits der Weltöffentlichkeit und ohne den Schutz der Anonymität wurde Bedeutenderes geleistet. Dort haben die Menschen die Revolution zum Erfolg gebracht. Leipzig steht natürlich für alles, aber auch Dresden, Plauen, Magdeburg - ich kann nicht alle Ortsnamen aufzählen. Es wird eine Aufgabe dieser anderen Zeitung sein, zur Geschichtsschreibung all dessen, was geschehen ist, aufzurufen und beizutragen.

Aber jetzt ist Alltag. Ich schreibe diese Zeilen unter dem Eindruck der Großdemonstration in der Berliner Normannenstraße, vor dem Stasi-Hauptquartier. Auch bei uns wirft die Bewegung Fransen, ist es am Rande zu hässlicher Gewalt gekommen (Gott sei Dank nur gegen Sachen!). Was immer ihr hört gegen das NEUE FORUM als Aufwiegler: Die Demo war das letzte politische Mittel vor dem landesweiten Streik gegen die Neugründung der Sicherheit! Hätten wir abgelehnt, hätten wir sie entschärft (zum x-ten Mal auf dem Alex zum Beispiel), dann hätte Ernsteres gedroht als die zerschlagenen Scheiben und geplünderten Sonderverkaufsstellen. Und dass das schwere Eisentor sich einfach entriegeln oder ausheben lässt, war weder erwartet noch von der Polizei angekündigt worden (man hatte vereinbart, dass es verschlossen bleibt). Wenn ihr über politische Verantwortung diskutiert, dann denkt auch an die sechswöchige Verzögerung der Information über die Sicherheitslage am Runden Tisch, denkt an das Stottern des Regierungsbeauftragten (der danach aus dem Verkehr gezogen wurde), denkt daran, dass noch vor einigen Tagen, als bereits Streiks drohten und die Abwanderungszahlen sprunghaft anstiegen, die Regierung vor der Volkskammer ihre feste Entschlossenheit zur Neugründung bekräftigte! Hoffentlich hat sie jetzt, nach dem Einlenken, begriffen, dass die Bevölkerung den Umbau dieser Sicherheit unter keinem Vorzeichen dulden wird.

Aber zum Alltag. Wir dürfen nicht kleinmütig werden!

Es gibt immer schnell Begeisterte, deren Eifer nachlässt. In jeder Bürgerbewegung kommt es zu Meinungsverschiedenheiten und Reibereien. Lauft nicht enttäuscht auseinander, wenn etwas nicht richtig klappt, chaotisch anmutet, denkt daran: Wir stehen am Anfang, nicht am Ende! Wir können es uns nicht leisten, wegen Formalien (z. B. Bewegung oder Partei) auseinanderzugehen, wenn wir uns über die Hauptinhalte einig sind! Ich habe als Regionaldelegierter von meiner Basis aus den Auftrag: Für Bewegung (Vereinigung), aber nicht spalten! Andere haben den Auftrag: Für Partei, aber nicht spalten! Wir haben erlebt, dass diese beiden Gruppen zusammen die Drei-Viertel-Mehrheit haben.

Auch die deutsche Frage darf uns nicht spalten. Letzten Endes wird hier die Stimme von über 16 Millionen entscheiden und nicht ein paar Leitartikel und Meinungsäußerungen. Vor uns stehen dringende Sofortaufgaben: Der Aufbau einer neuen Öffentlichkeit besonders in den Kommunen, die Reform der Wirtschaft, die Vorbereitung von Wahlen und einer demokratischen Verfassung, die Verhinderung der Restauration. Unsere Bewegung stand mit am Anfang der Revolution, sie darf jetzt nicht ausscheren! Geht nicht zurück ins Schneckenhaus, lasst Euch nicht in den Fernsehsessel zurückfallen, überlasst das Feld nicht den Schreihälsen und nicht den Wendehälsen! Wir brauchen die Ernsten, die Nachdenklichen, die Gründlichen, die Geduldigen, auch die schnell Entschlossenen und die Begeisterungsfähigen, wir brauchen die Jungen und die Alten, die im blauen und die im weißen Kittel. Das Gefährlichste wäre jetzt der Selbstlauf der Revolution!

Die Andere Zeitung Berlin, Nr. 1, Januar 1990

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