KOMMENTAR

Burschenschaftertreffen

Neulich war ich für einen Tag im Bundestag. Die Grünen hatten mich zur Debatte über den Staatsvertrag eingeladen. Die Atmosphäre dort hat mich zu der Überschrift gebracht. Es war wie bei Vaters Burschenschaft. Ältere Herren, die Leibesfülle mühsam durch Hosenbund und Weste gebändigt. Kameradschaftlich-kollegiale Stimmung über die Parteigrenzen hinweg (die Grünen werden etwas distanziert behandelt). Eine gewisse närrische Ausgelassenheit, die offenbar durch das Sitzungsklima bedingt ist Die Hinterbänkler nehmen nämlich nur durch Beifalls- und Unmutskundgebungen und durch Zwischenrufe an der Verhandlung teil, und das ist ein richtiger Duellsport, wie die Bestimmungsmensur bei den schlagenden Verbindungen Der Redner schleudert wilde Verwünschungen in die Richtung des politischen Gegners (es waren starke Redner aufgeboten, Kohl, Vogel, Lambsdorff, Waigel usw.), und von dort werden ihm empörte Zwischenrufe zuteil. Er wartet auf die Zwischenrufe und pariert sie kräftig. Vogel hatte die CDU als Nährmutter einer Blockflöte entlarvt, die Mitschuld an jahrzehntelanger Unterdrückung der Sozis trage. Woraufhin Dregger die SPD beschuldigte, dass es ohne ihren Beitritt 1946 keine SED hätte geben können und dass sie bis zum Schluss den Bruderkuss geübt hätten. Dies rief ein Höllenkonzert wütender Zwischenrufe unterhalb der Empore hervor, das Dregger lässig genoss wie der Teufel das Protestgeschrei der Kinder, wenn er den Kasper in den Schwitzkasten nimmt.

Ja, und nachher? Da war es genauso wie auf dem Burschenschaftertreffen nach den Mensuren. Man setzte sich fröhlich zusammen, trank ein Bierchen miteinander, scherzte über das Weltmeisterschaftsspiel im Fernsehen, sah gelegentlich auf die Übertragung oben aus dem Plenum, die ohne Ton auf einem anderen Bildschirm lief, und war wieder Kumpel und Kollege. Na ja, manche waren sich noch nicht ganz grün und saßen an entfernten Tischen, musterten sich wie zwei Kater, die in der Nacht auf dem Dach um eine Jungfrau gerauft haben. Gewisse Erinnerungen, aber die Sache war nun vorbei, und man hatte ja kräftig Hiebe verteilt, und der andere hatte kräftige Schmisse (hofft man, wenn morgen die Zeitungen berichten).

Das alles ist "Komment". Die Zwischenrufe gehören zum Spiel. Aber wehe, man lässt sich etwas Neues einfallen. Wie Petra Kelly zum Beispiel. Die stand während der Rede des Grünen Gerald Häfner, als dieser auf das Symbol "Schwerter zu Pflugscharen" zu sprechen kam, mit ein paar anderen Abgeordneten auf, stellte sich neben das Rednerpult und entfaltete eine Schwarz- rot-goldene Fahne mit dem Symbol. Sie verdeckte damit den Bundeskanzler, der wütend hinter ihr zischte, dass sie verschwinden solle (wahrscheinlich dachte er, es sei die Fahne mit dem alten DDR-Emblem, will ich mal zur Entschuldigung mit anführen, er sah ja nur die Rückseite). Das Zischen war aber überflüssig, denn die vier haben keine zwei Sekunden Zeit gehabt, hatten das Tuch noch nicht ganz entfaltet, als schon vier oder fünf Saaldiener da waren, die Fahne beschlagnahmten und die Abgeordneten zusammen mit dem "Tatwerkzeug" abführten. Ich glaube nicht einmal dass die TV-Kameras Zeit hatten, einzuschwenken.

Der Vorsitzende erklärte, dass in diesem Hause das Argument herrsche und nicht die Demagogie, und er rügte die Abgeordneten für ihre Aktion. An seinem Argument gefiel mir, dass er nicht die dümmliche Bezeichnung "Hohes Haus" wählte, die dauernd in der Volkskammer verwendet wird.

Ab Dezember werden auch unsere Politlöwen an den Rededuellen des Bundestages teilnehmen Oder?

J. Reich

die andere, Der Anzeiger für Politik, Kultur und Kunst, Nr. 24, Mi. 04.07.1990

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