Der 4. November

Von BÄRBEL BOHLEY

Der 4. November 1989 - seit Wochen gab es die Montagsdemonstrationen in Leipzig. Andere Städte hatten schon längst nachgezogen. Schwerin, Güstrow, Stendal, Fürstenwalde. Berlin schlief immer noch. Zwar war die Demonstration längst angekündigt, die Rednerliste stand fest, aber wir waren in Berlin eben noch nicht auf der Straße gewesen. Dann der 4. November - welche Explosion von Humor und Kreativität, Witz und Bissigkeit! Über 500 000 Menschen demonstrierten für ihre politischen Rechte. Sie ließen sich nichts vormachen, und die Wendehälse unter den Rednern - Gerlach, Schabowski, Markus Wolf - wurden ausgepfiffen. Die wichtigsten Forderungen waren Reisefreiheit, Meinungsfreiheit, Versammlungs- und Pressefreiheit und die Aufgabe des Führungsanspruchs der SED. Damals waren wir wohl alle von dem tiefen Gefühl unserer Stärke erfüllt. Wir sind das Volk. Und wie müssen die Herrschenden vor uns gezittert haben. Noch bevor der Ruf "Wir sind ein Volk!" alles übertönte, riefen sie: Deutschland. einig Vaterland.

Wie schnell hat uns die Lust verlassen, unsere Stärke auszuprobieren. "Keine Experimente!", wurde die Devise, mit der diejenigen, die einen dritten Weg für die DDR wollten, zum Schweigen gebracht wurden. Während die meisten Menschen in den Wartestand traten und auf die Lösungen aus dem Westen warteten, bereitete ein anderer Teil die Privatisierung der DDR vor und sorgte dafür, dass er selbst nicht zu kurz kam. Betriebe wurden in GmbH umgewandelt, und ihnen wandelten sich die alten Führungskräfte in die neuen Geschäftsführer um. Wer aber wieder draußen blieb, war das Volk. So wurde noch im Nachhinein der Beweis erbracht, dass es in der DDR nie Volkseigentum gegeben hat, denn welches Volk lässt sich so ohne weiteres sein Eigentum wegnehmen. Arbeitslos werden zuerst die Arbeiter und Angestellten. Und von diesen wieder zuerst die Frauen und die Jugendlichen. "Da müssen wir durch", heißt es jetzt oft - das mag zwar trösten, aber mehr Gerechtigkeit bringt diese Erkenntnis nicht in die Welt. Und wenn wir uns noch so klein machen, ohne Wunden kommen wir nicht durch diese Enge.

Aus diesem Grund haben sich zwanzig soziale Verbände und Interessengruppen an den "Runden Tisch von unten" gesetzt und beschlossen, gemeinsam ihre sozialen Rechte im geeinten Deutschland zu fordern. Der konzeptionslose Einigungsprozess zeigt seine ersten sozialen Auswirkungen wie Arbeitslosigkeit, soziale Unsicherheit, Zukunftsangst, erhöhte Kriminalität und Aggressivität innerhalb der Gesellschaft. Wir wollen nicht zu Arbeitern, Patienten, Rentnern, Jugendlichen zweiter Klasse in dem vereinten Deutschland werden. Deshalb fordert der "Runde Tisch von unten" die gleichen sozialen Rechte für alle Menschen in ganz Deutschland und ruft zu einer Demonstration am 4. November 1990 um 10.00 Uhr auf dem Alexanderplatz auf. Es soll keine Demonstration der Resignation und Lethargie werden. Wir wollen einfach, dass unsere Bratwurst nicht kürzer und teurer ist als die der Westdeutschen. Wir wollen nicht dafür bestraft werden, dass einige Politiker die Warnungen der Experten in den Wind schlugen, und nur deshalb, weit sie in den künftigen Geschichtsbüchern als Einheitsapostel verewigt sein wollen. Noch ist es Zeit, durch sinnvolle Wirtschaftsförderung und Sanierungskonzepte die Massenarbeitslosigkeit und deren Folgen zu begrenzen. Noch ist es Zeit, das Gesundheitswesen vor dem Zusammenbruch zu retten. Noch kann verhindert werden, dass die soziale Lage Alleinerziehender, der Rentner, der Behinderten, der Wenigverdienenden sich zu einer langjährigen Notlage entwickelt. Wir brauchen Konzepte und die gleichen Fördermittel wie die alten Bundesländer. Beides werden wir nicht bekommen, wenn wir nur sagen: Da müssen wir durch. Wir dürfen uns nicht verhalten wie Bären im Winterschlaf, denn wir wachen im Frühling vielleicht nicht wieder auf.

Junge Welt, Nr. 258, Sa. 03.11.1990

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