Vor einem Jahr erschien der Aufruf des NEUEN FORUM in der Öffentlichkeit. Über alle Parteigrenzen hinweg wollten wir den Dialog, wollten wir uns einmischen und Bewegung in das zur Partei-Ideologie verkommene und erstarrte Leben bringen. Der Aufruf war der berühmte Tropfen, der das Fass zum Überlaufen brachte. Es lief über und schwemmte Millionen Menschen auf die Straße, die ihre Bürgerrechte einklagten. Wir haben keine Revolution gemacht, keine Barrikaden sind gebaut worden, kein Blut ist vergossen worden. Wir haben im ganzen Land Kerzen angezündet und den politischen Leichnam, der uns zu ersticken drohte, beerdigt.

Statt die Regierung hinwegzufegen, haben wir uns mit Ministern ohne Geschäftsbereich begnügt. Während wir im ganzen Land an dem Runden Tischen saßen, hat die Regierung in den Hinterzimmern den Rückzug organisiert. Leider hat sie dabei noch einen Teil von dem, was uns gehörte, mitgeben lassen. Während wir uns mit Alltäglichkeiten herumschlugen, kamen die Wendehälse, faselten von demokratisch legitimierten Mehrheiten und erteilten uns schon wieder neue Anweisungen. Eppelmann sorgte sich um die Kümmernisse der Armee. Diestel um die Reste der Stasi, Pohl darum, wie schnell die DDR-Wirtschaft ganz auf den Hund kommt, de Maizière und Krause, wie sie die ganze DDR an Kohl bringen konnten.

Über den Verlust unserer sozialen Sicherheit vergessen wir manchmal, welche politischen Freiheiten wir errungen haben. Wir haben Presse- und Meinungsfreiheit, können alle Zeitungen kaufen vom ND bis zur Bild-Zeitung. Wir können die ganze Welt bereisen, wenn wir das nötige Geld haben. Wir werden mit freien und geheimen Wahlen zugeschüttet, in diesem Jahr sogar viermal.

Frei zu sein, bedeutet aber mehr, als in einer Wahlkabine seine Stimme abgeben zu können. Freiheit ist ein Gut, das ständig verteidigt werden muss, das täglich Wachsamkeit erfordert.

Im letzten Jahr hatten wir die Chance, politische Reife und Zivilcourage zu entwickeln. Wir werden aber erst wirklich frei sein, wenn wir jederzeit - und nicht nur alle vierzig Jahre - aus eigener Initiative auf die Straße gehen, um unsere Rechte und unsere Würde zu verteidigen. Wenn wir uns nicht damit begnügen, Steuerzahler und Konsumenten zu sein Wenn wir uns nicht in unsere Nischen zurückziehen und sagen: Politik ist unmoralisch, sondern wenn wir unsere Moral in die Politik tragen, wenn wir uns ständig einmischen und die Angelegenheiten der Gesellschaft zu unseren eigenen machen.

Bärbel Bohley
auf der Kundgebung
am 9. September

die andere, Der Anzeiger für Politik, Kultur und Kunst, Nr. 35, Mi. 19.09.1990

Die Kundgebung vor der ehemaligen Stasizentrale in Berlin anlässlich der Besetzung von Büroräumen des Stasiarchivs.
18.03.1990 Volkskammerwahl, 06.05.1990 Kommunalwahl, 14.10.1990 Landtagswahl, 02.12.1990 Bundestagswahl

Δ nach oben