Die Angst vor der Spaltung

Gespräch mit Joachim Gauck, Pfarrer, Mitglied des Sprecherrates, Bezirk Rostock:

Die ANDERE: Herr Gauck, Sie haben den Antrag zur Frage der staatlichen deutschen Einheit eingebracht, der dann eine Mehrheit des Kongresses gefunden hat. Was hat Sie dazu bewogen?

J. Gauck: Wir waren der Meinung, dass die erneute Betonung der deutschen Zweistaatlichkeit für unsere Basis schwer verständlich ist. Wir müssten für unsere Eigenstaatlichkeit einen triftigen Grund haben, das heißt, es müsste ein Gesellschaftskonzept vorhanden sein, das sich deutlich von dem Gesellschaftskonzept in unserem Nachbarlande unterscheidet. Wir können nicht erkennen, dass ein solches Konzept praktikabel wäre.

Die ANDERE: Aber die vielen Menschen, die den ersten Aufruf des NEUEN FORUM unterzeichnet haben, wollten die nicht eher einen besseren Sozialismus?

J. Gauck: Ich glaube schon, dass besonders bei den Erstunterzeichnern ein deutlicher Wunsch vorhanden war, dieses diskreditierte Gesellschaftsmodell mit neuem Leben zu erfüllen. Ich respektiere das, aber meine politischen Freunde im Norden und ich finden uns da nicht wieder. Ich denke auch, dass wir in einem halben Jahr sehr viel gelernt haben. Wir haben gewartet, natürlich, ob es denn möglich sein könnte, dies wirtschaftlich zu fundieren. Wir haben auch gewartet, ob unsere Bevölkerung das akzeptiert, und sie akzeptiert es nicht. Das zeigen sie uns, indem sie weggehen, sie riskieren keine neue Hoffnung. Und so sagen wir, es ist eigentlich jetzt nicht möglich, die ideale Gesellschaft zu errichten. Wir wollen dann das weniger Schlechte, wenn wir das ganz Gute nicht haben können. Das westliche Gesellschaftsmodell funktioniert wirtschaftlich besser und bietet auch im gesellschaftlichen Leben stärkere emanzipatorische Ansätze.

Die ANDERE: Wäre nicht eine staatliche Vereinigung Deutschlands die Aufgabe unsrer Identität?

J. Gauck: Wenn wir die Einheit bejahen, dann heißt das ja nicht, dass wir die Einheit gleich haben werden. Das heißt vor allem nicht, dass wir unsere Identität als Menschen, die in diesem Land aufgewachsen sind, plötzlich aufgeben. Das wäre ganz töricht. Aber wir definieren unsere Identität nicht so, dass wir uns auf die vielgerühmten sozialistischen Errungenschaften berufen, sondern wir haben in diesem Land gekämpft, wir haben auch Leidenserfahrungen, dadurch haben wir eine bestimmte Prägung bekommen. Ich möchte das einbringen in eine neue Einheit. Außerdem wünsche ich mir noch ein bisschen Zeit, um diese Jahre anzuschauen und dabei zu durchdenken, was sie uns getan haben. Ich möchte nicht ein zweites Mal in Deutschland erleben, dass der Prozess des Trauerns ausgespart wird.

Die ANDERE: Wie beurteilen Sie die Reaktion der Minderheit auf dem Kongress, die gemeint hat, ein solches Programm nicht mittragen zu können?

J. Gauck: Das war für uns erstaunlich und auch ein wenig erschreckend, denn wir hatten ja in der Diskussion eigentlich immer Formulierungen gefunden, die dann auch eine Mehrheit fanden. Es gab ein paar Punkte, in denen ein Konsens schwierig war, aber wir waren doch der Meinung, dass eine so starke Distanzierung, wie sie jetzt stattgefunden hat, nicht nötig war. Ein Mangel an Demokratieverständnis.

Die ANDERE: Denken Sie, dass die unterschiedlichen Positionen, wie sie auf dem Kongress formuliert wurden, noch miteinander vereinbar sind?

J. Gauck: Ausdrücklich ja. Ich denke doch, dass die Menschen, die sich Gedanken machen über den nächsten politischen Schritt und eher pragmatisch dabei denken, zusammenarbeiten können mit denen, die ihre Träume von der Veränderung - also den zweiten und den dritten Schritt - definieren. Das Gespenst der Spaltung, das im Raum schwebte, das macht mich schon besorgt.

Die Andere Zeitung Berlin, Nr. 2

Der Gründungskongress des Neuen Forum fand am am 27./28.01.1990 in Berlin statt.

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