Verfassung als Nagelprobe

Das Interview mit Dr. Wolfgang Ullmann, Mitbegründer von Demokratie Jetzt, Minister ohne Geschäftsbereich in der Regierung Modrow und nun Mitglied des Deutschen Bundestages, zur Entwicklung der Demokratie in Deutschland

Ein Jahr nach dem ersten Runden Tisch in der DDR sind die Bürgerbewegungen mit acht Abgeordneten im Bundestag vertreten, können nur wenig bewegen. Die Hoffnungen des Herbstes '89 - endgültig zerronnen?

Das sehe ich nicht so. Unser Programm enthielt zwei Punkte, freie Wahlen, ein Aufbrechen dieses Einparteien-BIockparteien-Systems und eine neue Verfassung. Beides ist in gewisser Weise auch Wirklichkeit geworden, wobei die neue Verfassung nun zusammenfällt mit dem Grundgesetz der Bundesrepublik, Der Runde Tisch hatte den Weg dahin anders geplant, nämlich durch Inkraftsetzung seines Verfassungsentwurfes. Das heißt aber auch, die Programmatik des 4. November harrt in vieler Hinsicht noch einer politischen Verwirklichung in Deutschland. Sie wird aber, denke ich, eingehen in die Verfassungsdiskussion, die jetzt nach den Wahlen von allen politisch relevanten Kräften geführt werden wird.

Worin sehen Sie Schwerpunkte einer solchen Diskussion?

Demokratie jetzt, heißt Demokratie, die jetzt praktiziert wird, und zwar aktuell und direkt. Es gibt sie schon in den kleinen Bürgerinitiativen, die in allen deutschen Ländern arbeiten. Auf der anderen Seite ist dieses Demokratie-Ideal noch ein Ziel, das wir anstreben in einer neuen Verfassung, in der die verfassunggebende Gewalt des Volkes nun nicht nur in der Präambel erwähnt wird, wie im Grundgesetz, sondern Teil des Staatsaufbaues und der Staatsgrundsätze wird.

Gelingt uns das nicht, ist die Demokratie in Deutschland ernsthaft gefährdet. Wenn sie nicht über das Repräsentativsystem hinaus weiterentwickelt wird zu einer Kooperation von repräsentativer und direkter Demokratie, so dass eben neben den Parteien im Parlament auch die Bürgerbewegungen vertreten sind und es Formen wie ein Bürgerparlament gibt. Das würde ich sehr gern in einem Verfassungsrat diskutieren. Mehrere Landesverfassungsentwürfe enthalten übrigens so etwas in Gestalt eines Landesausschusses. Das Ist ein Versuch, die Struktur des Runden Tisches in die Verfassung einzubauen. Die politische Gleichstellung der Frauen, die Formulierung von Staatsbürgerrechten auf Menschenrechtsbasis, nicht national und abstammungsmäßig - das alles und noch einiges mehr, wie der Umweltschutz, sollte in ein ergänztes Grundgesetz.

Gibt es überhaupt genügend Bürger, die bereit sind, ihr gesellschaftliches Schicksal selbst zu bestimmen? Die Wahlergebnisse sprechen eine andere Sprache.

Dass es sie gibt, daran zweifle ich gar nicht. Das hat man ja am 4. November '89 gesehen. Dass sie aber dieses Jahr nun desorientiert, resigniert und entmutigt sind, das ist auch ebenso offenbar. Ich bin den Wählern, die uns diese neue Chance im Bundestag ermöglichen, dankbar. Wir hatten mehr erwartet doch die Menschen wählen halt nicht aus historischen Gründen, sondern mit Blick auf die Zukunft. Da konnten wir unsere Kompetenz zu wenig glaubhaft machen. In der nächsten Zeit muss es uns besser gelingen, die Distanz zwischen dem mehr intellektuellen Niveau unserer Bewegungen und ihrer Vertreter und der Masse der Bürger zu überwinden. Das freilich geht nicht von heute auf morgen.

Viele sind schon wieder in neuen Nischen oder beschränken sich auf die Konsumentenrolle. Wie ist das zu überwinden?

Dazu braucht es ein ökonomisches wie ein politisches Programm. Wir haben ja jetzt die Situation, dass in der DDR Niedergeschlagenheit herrscht wegen der ungünstigen Wirtschafts- und Konjunkturlage und in den alten Ländern der Bundesrepublik Ärger und Verdrossenheit, weil man den Eindruck hat, die ganze Vereinigung bringt nichts als Schwierigkeiten und gefährdet womöglich gar noch die Konjunktur und die Geldstabilität. Die schlechte Stimmung kann man nur überwinden, wenn die Politiker der gesamten Bevölkerung eine Perspektive zeigen könnten, eine Perspektive gemeinsamen politischen Handelns. Und ich glaube, die Antwort auf die Frage, was das denn sei, ist ganz naheliegend: das ist eben die Verfassungsdiskussion, die Arbeit an einer neuen Zielbestimmung der Gesellschaft. Diese politische Perspektive ist in meinen Augen die Chance, die Kräfte zu mobilisieren und die immensen wirtschaftlichen Aufgaben anzupacken.

Dazu müsste man auch im Westen bereit sein, sich zu ändern. Doch Politiker der alten Bundesrepublik zeigen wenig Bereitschaft, dieses gemeinsame Deutschland zu einer neuen deutschen Republik zu machen . . .

Dem kann ich nur zustimmen. Das liegt noch meinem Dafürhalten daran, dass sie bis zum 1. Juli und überhaupt im Sommer immer unter der Devise gehandelt haben: schnell, schnell - wir müssen alles über die Bühne bringen. Mittlerweile sieht man die Schäden, die man angerichtet hat, und versucht sich damit aus der Affäre zu ziehen, dass man sagt na ja, das sind eben die Folgen der unseligen 40 Jahre der SED-Herrschaft. Was durchaus nicht falsch ist, aber auch trivial und eine bloße Ausrede, insofern man ja im vorigen Herbst schon wusste - oder spätestens im Frühjahr - als man das Währungsunions-Projekt anzudenken begann, in welchem Zustand sich die DDR-Wirtschaft befand. Man hat nicht auf die Warnungen der Experten gehört. So trifft die alte und wohl euch die neue Regierungskoalition in Bonn, freilich auch ihre Satelliten in der DDR bis zum 3. Oktober, ein hohes Maß an Verantwortung für die jetzige schlechte Wirtschaftslage und die zum Teil wirklich deprimierende soziale Situation einer nicht unbeträchtlichen Anzahl von DDR-Bürgern.

Interview: Hendrik Thalheim

Junge Welt, Nr. 287, Sonnabend/Sonntag 8/9. Dezember 1990

Δ nach oben