Neujahrsbotschaft

Der amtierende Staatsratsvorsitzende der DDR Manfred Gerlach, Ministerpräsident Hans Modrow und Volkskammerpräsident Günther Maleuda richteten am 30. Dezember 1989 folgende gemeinsame Botschaft zum neuen Jahr an die Bevölkerung in der DDR:

Das zu Ende gehende Jahr 1989 wird als das Jahr der friedlichen Revolution in die Geschichte und unseres Landes eingehen. Die Bürgerinnen und Bürger der Deutschen Demokratischen Republik verwirklichen ihren Traum von Freiheit, Demokratie und Gerechtigkeit. Volkskammer, Regierung und Staatsrat sind ihrem Willen verpflichtet. Das Volk braucht keine Belehrungen, keine politischen Missionare, keine selbstgerechten Moralapostel. Das Volk handelt als Souverän.

Wir glauben uns mit der Mehrheit aller Bürger in Übereinstimmung, wenn wir an der Schwelle des Jahres 1990 sagen: Die Deutsche Demokratische Republik braucht revolutionäre Veränderungen. Sie braucht Rechtsstaatlichkeit. Sie braucht Vernunft und Augenmaß. Die Freiheiten, die errungen wurden, sollen gefestigt werden. Die Bürgerrechte müssen jedem Bürger gewährt werden.

Die Deutsche Demokratische Republik braucht die gute Arbeit aller Bürger. Jeder ist hier auf jeden angewiesen. Jeder hat seinen Teil Verantwortung für das Ganze. Wir brauchen eine funktionierende Wirtschaft, weil unser Volk sie braucht. Ohne funktionierende Wirtschaft kann es keine funktionierende Demokratie geben.

Unser Dank gilt deshalb den Bürgerinnen und Bürgern in Stadt und Land, die in diesen Wochen aufopferungsvoll die Produktion gewährleisten, die Versorgung und den Schutz der Bevölkerung sichern.

Alle Kräfte müssen mobilisiert werden, um die Krise zu überwinden. Unterstützung dafür, insbesondere von Seiten der Bundesrepublik Deutschland, ist notwendig, dringlich und willkommen.

Erste Maßnahmen der Regierung der DDR beginnen sich positiv auszuwirken. In den nächsten Wochen werden sich ihre Handlungsfähigkeit und ihr Durchsetzungsvermögen weiter erweisen. Auch bei voller Öffnung der Grenzen zur BRD und zu Westberlin wird ein Auskaufen der DDR nicht zugelassen. Es wird auch künftig keinen Ausverkauf von Betrieben unseres Landes geben. Jeder Bürger möge auch wissen, dass seine Spareinlagen sicher sind. Eine Währungsreform ist nicht vorgesehen.

Die Deutsche Demokratische Republik befindet sich im Übergang zu Neuem. Vieles erscheint ungewohnt, manches bedrohlich. Alte Strukturen zerbröckeln, werden in Frage gestellt. Neue politische Kräfte formieren sich. Fester Grund muss gefunden werden. Wir müssen ihn auf demokratische Weise gemeinsam schaffen. Vertrauen in die Zukunft soll schon im neuen Jahr wachsen. Niemand möge Furcht empfinden, jeder möge mithelfen, für Ordnung, ein geordnetes Leben in Stadt und Land zu sorgen. Vergessen wir dabei die Alten und Kranken nicht, sorgen wir ebenso für die Kinder.

Das Jahr 1990 steht im Zeichen der Wahlen. Sie werden eine neue politische Landschaft hervorbringen. Bis dahin sind und bleiben Volkskammer, Koalitionsregierung, Staatsrat und nicht zuletzt der Runde Tisch dem Bürgerwohl verpflichtet. Das ist ihr oberster politischer Auftrag.

Millionen Bürger haben in diesen Wochen demonstriert, in Zusammenkünften ihren Willen bekundet. Millionen Bürger schweigen noch. Auch die Stillen im Lande sollten im neuen Jahr ihre Stimme erheben, sich zu jenen Bürgerinnen und Bürgern gesellen, die laut rufen: Keine Gewalt! Keine Hassausbrüche! Keine Ausländerfeindlichkeit! Rechtsradikalen Schreiern und Neofaschisten nicht die Spur einer Chance!

Mut zu verantwortungsbewusstem Handeln ist erste Bürgerpflicht! Wir vertrauen auf dass Können und die Leistung der Arbeiter, Genossenschaftsbauern, der Angehörigen der Intelligenz und aller Werktätigen, der Frauen, Männer und der Jugend, in friedlicher Arbeit unserem Land eine bessere Zukunft zu gestalten.

Die Erneuerung der Deutschen Demokratischen Republik ist mit den demokratischen Umwälzungen in anderen sozialistischen Staaten, insbesondere mit Perestroika und Glasnost in der Sowjetunion, untrennbar verbunden.

Unsere Bemühungen und Ergebnisse, aber auch unsere Versäumnisse und Irrtümer wirken zurück auf Entwicklungen in Europa. Werden wir also den in uns gesetzten Erwartungen gerecht.

Und nach wie vor gilt: Beide deutsche Staaten haben eine besondere gemeinsame Verantwortung für Frieden und Sicherheit, für Abrüstung und Entspannung.

Dieser Verantwortung wird die DDR stets nachkommen. Dabei sollten alle politischen Kräfte mithelfen.

Europa blickt auf uns, weil die Entwicklung der DDR und ihr Verhältnis zur BRD ganz Europa angeht, vor allem die Nachbarn und Partner der beiden deutschen Staaten. Die Vertragsgemeinschaft mit der Bundesrepublik Deutschland, die im Jahre 1990 Konturen gewinnen soll, kann nur dann nützlich für Europa und nützlich für uns sein, wenn die Regierung der DDR als verlässlicher Partner zu handeln vermag. Stabilität und Regierbarkeit der DDR sind eine deutsche Notwendigkeit und ein europäisches Anliegen.

Wenn in diesen bewegten Tagen von der Zukunft gesprochen wird, ist oft auch von deutscher Vergangenheit die Rede. Bleiben wir dabei, Mitbürgerinnen und Mitbürger, hier gemeinsam ein neues Kapitel deutscher Geschichte zu schreiben, ein Kapitel ohne Blut und Eisen, ein Kapitel des Volkes für das Volk.

Wir wünschen Ihnen allen ein friedliches neues Jahr, Gesundheit, Wohlergehen und Schaffenskraft!

Manfred Gerlach
amt. Vorsitzender des Staatsrates

Hans Modrow
Ministerpräsident

Günther Maleuda
Präsident der Volkskammer

Neues Deutschland, Sa. 30.12.1989

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