Dr. Vogel (SPD): Frau Präsidentin! Meine sehr verehrten Damen und Herren! Dies ist nach längerer Pause die erste Sitzung, an der Herr Kollege Genscher wieder teilnimmt. Wir freuen uns darüber und über die Wiederherstellung Ihrer Gesundheit.

(Beifall)

Wir haben gelesen, dass der Herr Bundeskanzler heute das Krankenhaus aufsucht und sich einem chirurgischen Eingriff unterzieht. Ich möchte ihm von dieser Stelle aus ein gutes Gelingen dieses Eingriffs und recht gute Besserung wünschen.

(Beifall)

Frau Präsidentin! Meine sehr verehrten Damen und Herren! Im Namen meiner Fraktion und meiner Partei heiße ich die Übersiedlerinnen und Übersiedler, die in diesen Tagen und Wochen aus der DDR zu uns in die Bundesrepublik gekommen sind, herzlich willkommen.

(Beifall bei der SPD, der CDU/CSU und der FDP sowie bei Abgeordneten der GRÜNEN)

Ich habe das vor einigen Tagen im Übergangslager Schöppingen selber an Ort und Stelle getan; ich wiederhole es von dieser Stelle aus.

Wir haben mit ihnen gebangt und teilen das Gefühl der Erleichterung und der Freude, das sie jetzt hier bei uns beseelt. Wir werden ihnen mit Hilfsbereitschaft begegnen, und wir sind zur Zusammenarbeit mit allen verantwortungsbewussten Kräften bereit, um ihnen das Heimischwerden in der Bundesrepublik zu erleichtern. Dabei werden wir gerade auch im Interesse der Übersiedler auf zweierlei achten:

Erstens. Die Hilfe, die jetzt notwendig ist, muss von der ganzen Gemeinschaft geleistet und darf nicht primär auf Kosten derer erbracht werden, die selbst schon lange auf eine Wohnung oder einen Arbeitsplatz warten.

(Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten der CDU/CSU, der FDP und der GRÜNEN)

Zweitens. Die Übersiedler und die anderen Gruppen derer, die hilfesuchend zu uns kommen, dürfen nicht gegeneinander ausgespielt werden.

(Beifall bei allen Fraktionen)

Ich appelliere an alle Mitbürgerinnen und Mitbürger, denen, die das versuchen - zum Teil mit populistischen Parolen -, entschieden entgegenzutreten.

Unser Dank gilt allen, die in den letzten Tagen und Wochen daran mitgewirkt haben, dass es zu vertretbaren, zu guten Lösungen gekommen ist. Ich schließe dabei insbesondere auch Einzelpersonen ein, die ihr Äußerstes getan haben.

Der Dank gilt aber vor allem der ungarischen Regierung, die - das muss immer wieder betont werden - in eigener Souveränität und im Geiste der Humanität eine beispielhafte Entscheidung getroffen hat.

(Beifall bei allen Fraktionen)

Bei den Mitgliedern dieser Regierung, denen wir gerade gemeinsam Beifall gespendet haben, handelt es sich übrigens um Kommunisten, überwiegend um Kommunisten, die ihrer Partei seit Jahren und Jahrzehnten angehören,

(Rühe [CDU/CSU]: Andere als die, mit denen Sie in Ost-Berlin verkehren!)

Kommunisten, zu denen wir Sozialdemokraten seit langem intensive Gesprächskontakte unterhalten, an die wir uns also, wie einige auch in diesem Hause das zu nennen beliebten, seit Jahren „angebiedert" haben,

(Beifall bei der SPD - Bohl [CDU/CSU]: Was soll dieses Niveau? Dolles Niveau! - Weitere Zurufe von der CDU/CSU)

während doch in Wahrheit gerade diese Gesprächskontakte mitgeholfen haben, den Reformprozess in diesem Lande voranzubringen.

(Beifall bei der SPD - Bohl [CDU/CSU]: Hohes Niveau! - Rühe [CDU/CSU]: Kontakte zur SED, Herr Vogel!)

Vielleicht - ich hoffe es jedenfalls - wird denen, die es angeht, dieser Zusammenhang und damit die Unredlichkeit ihrer agitatorischen Polemik jetzt wenigstens im Nachhinein bewusst.

(Beifall bei der SPD und des Abg. Schily [GRÜNE] - Rühe [CDU/CSU]: Die Partei ist völlig beunruhigt über Ihren Kurs!)

Die DDR-Führung behauptet, der Übersiedlerstrom sei durch Machenschaften der Bundesrepublik ausgelöst worden. Diese Behauptung weisen wir mit aller Entschiedenheit zurück.

(Beifall bei der SPD)

In Wahrheit liegt die Ursache für die Fluchtbewegung in der Unfähigkeit und im mangelnden Willen der gegenwärtigen DDR-Führung, die längst überfälligen Reformen in Gang zu setzen und den Menschen das Maß an demokratischer Freiheit und eigenverantwortlicher Mitbestimmung einzuräumen,

(Rühe [CDU/CSU]: Was hat denn Lafontaine gesagt?)

das in Polen und Ungarn, aber auch in der Sowjetunion in einem Prozess, der noch vor kurzem als ganz undenkbar erschien, bereits Wirklichkeit geworden ist.

(Beifall bei der SPD)

Die Ursache liegt darin, dass die Führung das verweigert, was sie im Streit- und Dialogpapier des Jahres 1987 selbst als notwendig anerkannt hat. Denn dort heißt es - dies werden wir immer wiederholen -:

Die offene Diskussion über den Wettbewerb der Systeme, ihre Erfolge und Misserfolge, Vorzüge und Nachteile muss innerhalb jedes Systems möglich sein. Und: Gesellschaftssysteme stehen immer wieder vor Aufgaben, die sie ohne Veränderung, Fortentwicklung und Reform nicht bewältigen können.

Auf der Einforderung dieser Sätze werden wir bestehen.

(Beifall bei der SPD und der Abg. Frau Garbe [GRÜNE])

Da und dort wird über die Motive diskutiert, aus denen die Übersiedler zu uns kommen. Wir tun das nicht, wir respektieren ihre Entscheidung und verstehen sie. Viele von uns hätten sich in ihrer Lage nicht anders entschieden.

Aber wir respektieren ebenso die Haltung derer, die in der DDR bleiben, etwa weil sie dort für Änderungen eintreten wollen, oder auch einfach deshalb, weil sie wissen, dass es Mitmenschen, etwa Kranke und Leidende, hart treffen würde, wenn sie gingen.

(Beifall bei der SPD und der FDP sowie bei Abgeordneten der GRÜNEN und der CDU/CSU)

Denen, die kommen, wollen wir helfen. Die, die bleiben, wollen wir ermutigen, auch dadurch, dass wir das Gespräch nicht abreißen lassen.

(Rühe [CDU/CSU]: Durch Ihre Gespräche mit der SED wollen Sie die Leute ermutigen?)

- Herr Rühe, Sie haben Ihr Soll weiß Gott in der letzten Woche schon erfüllt, machen Sie jetzt Pause! -,

(Beifall bei der SPD und bei Abgeordneten der GRÜNEN — Zurufe von der CDU/CSU)

dass wir nicht nur in Schönwetterzeiten, in denen Milliardenkredite eingefädelt wurden

(Bohl [CDU/CSU]: Was sagt Herr Gansel dazu?)

und sich die Besucher in Ost-Berlin und in Leipzig gerade auch aus Ihren Reihen drängten und die Türklinken in die Hand gaben, sondern gerade jetzt in die DDR reisen

(Dr. Ehmke [Bonn] [SPD]: Rühe an der Spitze!)

und dort mit allen reden, gerade jetzt mit allen reden.

(Beifall bei der SPD)

Wir reden mit den sich formierenden Kräften der Veränderung, wir reden wie eh und je mit den Kirchen, aber wir reden auch mit denen, die für die krisenhafte Entwicklung verantwortlich sind und denen wir nicht nur über die Medien von hier aus, sondern von Angesicht zu Angesicht sagen: Hört auf, euren eigenen Bürgerinnen und Bürgern mit Misstrauen zu begegnen, ja euch vor ihnen zu fürchten! Gebt ihnen die Freiheit, selbst zu denken und zu entscheiden, und wenn ihr das nicht könnt oder wollt, dann macht anderen Platz, die dazu in der Lage sind! Das sagen wir an Ort und Stelle.

(Beifall bei der SPD und bei Abgeordneten der GRÜNEN - Bohl [CDU/CSU]: Warum haben Sie das nicht in das Papier mit der SED hineingeschrieben, was Sie hier jetzt so lautstark erklären?)

Nur so kann der Flüchtlingsstrom zum Versiegen gebracht und nur so kann verhindert werden, dass im Herzen Europas - und hier sehe ich eine Übereinstimmung mit dem, was Herr Kollege Seiters an dieser Stelle eben gesagt hat - unberechenbare Abläufe in Gang kommen, die die Reformprozesse im Osten und den europäischen Friedensprozess in gleicher Weise gefährden würden.

Ich bin sicher, bis in die DDR-Führung hinein gibt es Kräfte, die das nicht wollen. Sie gibt es außerhalb der SED, aber - der "Aufruf der hundert", die jetzt ein neues Forum gegründet haben, bestätigt und beweist es - auch in ihr, und sie wollen wir stärken. Wer das für unmöglich hält, wer sagt, solche Entwicklungen seien in der DDR nicht möglich

(Vogel [Ennepetal] [CDU/CSU]: Sie haben doch selbst von Reformunfähigkeit gesprochen!)

den erinnere ich daran, dass die Prozesse in der Sowjetunion, in Polen und in Ungarn vor kurzem ebenfalls noch für unmöglich gehalten wurden.

(Beifall bei der SPD)

Die Herren, die jetzt sagen, eine Reformentwicklung in der DDR sei nicht möglich, haben doch genauso vor Jahr und Tag gesagt, in der Sowjetunion, in Polen oder in Ungarn sei dies nicht möglich.

(Bohl [CDU/CSU]: Sie haben doch von Reformunfähigkeit gesprochen, Herr Vogel!)

Das "Unmögliche" aber ist nicht in den Zeiten des Kalten Krieges und der Konfrontation,

(Unruhe bei der CDU/CSU - Rühe [CDU/CSU]: Sie sind voll in der Defensive!)

das "Unmögliche" ist nicht durch Gesprächsverweigerung

(Bohl [CDU/CSU]: Das ist doch unter Ihrem Niveau!)

und erst recht nicht durch Grenzdiskussionen, sondern durch eine Politik des Dialogs, der immer neuen Schritte und Anstöße,

(Beifall bei der SPD und den GRÜNEN)

durch eine ebenso besonnene wie beharrliche Politik möglich geworden; durch eine Politik, die auf die ansteckende Kraft des Freiheits- und des Selbstbestimmungswillens der Menschen vertraut. Für diese Politik werden wir auch in Zukunft unbeirrt eintreten.

(Beifall bei der SPD)

Wir werden dafür eintreten bis zu dem Tage,

(Bohl [CDU/CSU]: Ja, ja, im Rückwärtsgang!)

an dem mit der Teilung Europas auch ein Zustand überwunden ist, der Deutsche dazu bringt, von Deutschland nach Deutschland flüchten zu müssen.

(Anhaltender Beifall bei der SPD - Beifall bei Abgeordneten der GRÜNEN)

Deutscher Bundestag, Stenographischer Bericht, 158. Sitzung, Bonn, Donnerstag, den 14. September 1989

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