BA-Exklusivinterview mit dem Präsidenten des Arbeitslosenverbandes der DDR

Erleben wir erneut einen "heißen Demo-Herbst"?

Dr. Klaus Grehn: Kein Grund an Arbeitslosenzahlen in Millionenhöhe zu zweifeln / Umschulung ohne wirtschaftliche Konzepte wirkungslos / Erste Suizidfälle von Arbeitslosen bekannt / Verband in schwieriger Finanzlage

130 000 Arbeitslose stehen nach neuesten Informationen zu Buche. Eine realistische Zahl?

Aus unserer Sicht nicht. Denn in offiziellen Statistiken werden nur die Bürger geführt, die bei den Arbeitsämtern Antrag auf Arbeitslosengeld gestellt haben. Man muss aber auch die Bürger hinzuzählen, die zum Beispiel zwangsweise in den Vorruhestand geschickt wurden. Zwangsweise deshalb, weil Vorruhestand nur ein Mittel ist, die Betriebe kurzfristig zu entlasten und Arbeitslosenzahlen zu schönen. Fakt ist, dass die Gesellschaft für diese Bürger keinen Arbeitsplatz mehr bietet. Nach unseren Schätzungen betrifft das derzeit rund 40 000 Bürger. Dazu kommen noch rund 50 000 Zeitjobber in der BRD und Westberlin, die lieber stundenweise drüben arbeiten, als dass sie hier Bittsteller auf Arbeitsämtern sind. Insgesamt, die Dunkelziffer einbezogen, kann man jetzt von über 200 000 Arbeitslosen ausgehen.

Wirtschaftsminister Pohl sprach kürzlich von einem bevorstehenden "heißen" Herbst. Mit Arbeitskämpfen und Streiks. Westliche Experten wie der BDI-Chef Necker sehen hingegen optimistisch in die nahe Zukunft. Kann man heute überhaupt halbwegs realistische Arbeitslosenzahlen in Millionenhöhe prognostizieren?

Voraussehen kann man natürlich keine genauen Zahlen. Ich möchte mich auch nicht an diesen teilweise schon unseriösen Spekulationen beteiligen. Ich habe aber gar keinen Grund, an oft genannten Millionen-Zahlen zu zweifeln. Dazu ist die Situation in der Wirtschaft viel zu prekär. Im übrigen spricht nicht nur Herr Pohl vom heißen Herbst. Der IG-Metall-Chef (West), Steinkühler, sprach jüngst nicht mehr von Streiks, sondern von Krawallen und Ausschreitungen. Anzeichen dafür gibt es schon jetzt, beispielsweise im Mansfelder Revier. Mit Morddrohungen gegen Leiter beginnt es dort zu brodeln. Ohne Panik zu machen, sollte man politisch motivierte Arbeitskämpfe durchaus ernst nehmen. Zur Zeit können wir nur sachlich nachweisen, dass aufgrund von Entlassungsankündigungen im Monat Juli die Arbeitslosigkeit rasant ansteigen und schnell die halbe Million überschreiten wird.

Was sind nach Ihrer Ansicht die Hauptgründe für diesen rasanten Anstieg?

Angekündigte Betriebsstilllegungen und kaum greifende Schutzmaßnahmen seitens der Regierung sehe ich als Hauptgründe. Wir haben zum Beispiel bereits im März darauf hingewiesen, dass mit der Einführung der D-Mark erhebliche Probleme in Betrieben entstehen, die vorwiegend ins östliche Ausland exportieren. Für diese Betriebe wurden keine Schutzmaßnahmen getroffen. So muss zum Beispiel der VEB Messtechnik Berlin in Kürze 700 Arbeitnehmer entlassen, da die UdSSR ab Juli alle Verträge storniert hat. Der Betriebsleiter versucht nun verzweifelt, neue Abnehmer zu finden. Dies alles wäre bei einem geordneten Wirtschaftskonzept nicht nötig gewesen. Von der psychologischen Situation der Bürger, die von heute auf morgen ihren Arbeitsplatz verlieren, möchte ich gar nicht sprechen. Auch dafür wurde keine Vorsorge getroffen.

Kann westliches Kapital überhaupt noch kurzfristig Arbeitsplätze sichern?

Ganz sicher nicht. Investitionen, über die nur lange geredet wurde, hätten schon längst dasein müssen. Einerseits um Arbeitsplätze zu sichern, andererseits um neue zu schaffen. Bis die Investitionen nach einer Übergangs- und Anlaufzeit so weit getrieben sind, dass sie spürbar greifen, wird es zwischenzeitlich Millionen Arbeitslose geben.

Das Arbeitsförderungsgesetz soll ja mit Umschulungsmaßnahmen arbeitsmarktordnend wirken. Umschulung als Allheilmittel?

Umschulung ist wichtig, um Arbeitslosigkeit abzubauen. Viel wichtiger aber, um sie vorausschauend zu verhindern. Dafür fehlt aber jegliches wirtschaftliches Konzept. Die Betriebe wissen ganz einfach nicht, in welche Richtung sich ihre Branche entwickeln wird. Im Bauwesen werden zur Zeit Tausende Arbeitnehmer entlassen, obwohl angesichts der Infrastruktur und des Wohnungsbedarfs in Zukunft Arbeitsplätze geschaffen werden müssen. Für die Datenverarbeitung wird in Größenordnungen umgeschult, andererseits wird in Betrieben dieses Zweiges entlassen. Dieser Widerspruch entsteht einfach aus der Konzeptionslosigkeit der Ministerien: Die Betriebe müssen ganz einfach in die Pflicht genommen werden, ordentliche Strukturanalysen auszuarbeiten und gezielte territorial nötige Umschulungsmaßnahmen anzukurbeln. Ansonsten trägt Umschulung nicht dazu bei, die Chancen auf dem Arbeitsmarkt zu verbessern. Sie wäre dann eine reine Fehlinvestition für die Gesellschaft.

Arbeitslosigkeit wirft den gelernten DDR-Bürger in ein eiskaltes Wasser. Wie greift der Arbeitslosenverband den Betroffenen in dieser Situation unter die Arme?

Man muss hier immer wieder auf die besondere psychosoziale Situation der DDR-Arbeitslosen aufmerksam machen, die mit der in der BRD nicht zu vergleichen ist. Aus der Sicht heraus, dass der Erwerbstätige bei uns immer gegängelt wurde und Selbständigkeit nicht gelernt hat, ist es eben nicht nur mit der Erneuerung der Wirtschaft getan. Auch der Mensch muss sich wandeln. Bei uns war die Arbeit das A und 0, vier Wochen ohne Arbeit bedeutete Asozialität.

Heute müssen wir mit solchen Situationen wie Beschäftigungslosigkeit lernen zu leben. Und darauf sind weder die Betriebe noch die Gesellschaft vorbereitet. Der abrupte Wechsel von der Plan- zur Marktwirtschaft kann unserer Meinung nach zu einer echten psychischen Krankheit derer führen, die plötzlich im sozialen Abseits stehen. Wir registrieren jetzt schon bei Erwerbslosen zunehmend Lethargie, Depression und Selbstaufgabe, sogar schon erste Suizidfälle. Wir wollen dafür sorgen, dass die Arbeitslosen nicht ausgegrenzt werden, sondern sozial integriert bleiben und sich nicht in "ihre vier Wände" zurückziehen Wer dies tut, bekommt nach einer gewissen Zeit Berührungsängste und verlernt, sich kollektiven Normen zu stellen. Durch Kommunikationszentren und berufsspezifische Initiativen wollen wir versuchen, das Abgleiten in Privatsphäre und Isolation zu vermeiden. Die Programme für solche Zentren müssen so beschaffen sein, dass nicht nur Problemkommunikation betrieben wird, sondern auch fachliche Fähigkeiten entwickelt werden können.

Der Arbeitslosenverband also als Anwalt der Erwerbslosen . . .

Wir möchten schon eine Art Lobby für die Arbeitslosen gegenüber dem Staat, Parteien, Unternehmen und Kommunen bilden, um auch Arbeitslosenrecht durchzusetzen. Angefangen von der Integration in die Gesellschaft bis hin zur Höhe des Arbeitslosengeldes sind durchweg existentielle Fragen zu klären. Für die Verantwortlichen in diesem Land, das ist uns klar, werden wir ein unbequemer Partner sein. Denn: Dass ein Staat nur so gut ist, wie er seine sozial Schwachen behandelt, muss den Regierenden immer wieder ins Gewissen gerufen werden.

Stichwort Jugendarbeitslosigkeit: Sägt man nicht an dem Ast, auf dem wir sitzen?

Arbeitslosigkeit ist für jedes Land ein schlimmes Problem. Jugendarbeitslosigkeit ist eine gesellschaftliche Katastrophe, gerade für unser Land. Wer in jungen Jahren ohne Arbeit ist, eignet sich zwangsläufig eine Lebensweise an, die es schwer macht, in den sich wandelnden wirtschaftlichen und gesellschaftlichen Strukturen irgend wann mal Tritt zu fassen. Wer sich den Lebensbaum der DDR anschaut, erkennt, dass wir gerade junge Menschen brauchen. Da darf die Gesellschaft nicht verantwortungslos und ignorant mit der Jugend verfahren. Junge Leute brauchen gerade in diesem Alter durch Familiengründung, Wohnung usw. einen großen Fonds an sozialer Sicherheit als Start ins Leben.

Jeder sechste Antragsteller auf Arbeitslosengeld ist unter 25 Jahren. Das dürfte doch ein erster Warnschuss sein?

Ohne Zweifel. Die Betriebe, die Jugendlichen kündigen wollen, sollten auch an ihre Existenz denken. Das heißt auch, die Lehrlingsausbildung als unliebsames Kind nicht einfach an die Kammern abzuschieben, solange diese nicht funktionieren. Da müssen schnellstmöglich Übergangsregelungen zwischen Betrieben, Kammern und Kommunen vereinbart werden.

Der Massenexodus von vornehmlich jungen Leuten im letzten Jahr hat schon tiefe Lücken gerissen. Da dürfen die Betriebe nicht weiter hemmungslos in diese Kerbe schlagen. Ich kann Jugendlichen nur raten, auf keinen Fall selber zu kündigen. Oftmals glauben sie, dadurch frei und ungezwungen nach neuen Arbeitsstellen suchen zu können. Wenn das nicht auf Anhieb klappt, beginnt oftmals der Abstieg. Der Schritt zu Alkohol, Drogen und Kriminalität ist dann schnell getan.

Auf welche Erfahrungen und Kontakte westlicher Arbeitslosenorganisationen kann der DDR-Verband aufbauen?

Eine unserem zentralen Arbeitslosenverband vergleichbare Organisation gibt es in Westeuropa nicht. Dort sind die Arbeitslosen meist in territorialen Arbeitsloseninitiativen aktiv. Betreiben Kultur-, Sozial- oder caritative Häuser. Das europäische Netzwerk der Arbeitslosen versucht, Initiativen aller Länder zu bündeln und unter einem Dach zu vereinen. Mit Blick auf die Einigung Europas ist dies ein wichtiger Schritt. Die dramatische Zahl von offiziell 20 Millionen Erwerbslosen in Westeuropa, vom Netzwerk werden 40 Millionen genannt, macht den Handlungsbedarf deutlich. Bis zum Jahr 2000 rechnet man überdies mit 800 Millionen fehlenden Arbeitsplätzen auf der ganzen Welt. Das unterstreicht, dass Arbeitslosigkeit vom nationalen zum globalen Problem "aufsteigen" wird.

Arbeitslosigkeit als globales Problem. Entwickelt sich da nicht ein riesiges Konfliktpotential?

Natürlich sind . . . zig Millionen Arbeitslose ein immens großes Konfliktpotential. Die Geschichte zeigt Beispiele von rechts- oder linksextremistischen Aktivitäten Arbeitsloser. Ganz sicher liegen dort große Gefahren für gesellschaftliche Solidität. Es werden immer öfter theoretische Modelle angedacht, die davon ausgehen, dass Arbeitslose das Potential sein könnten, das zum Motor von gesellschaftlichen Veränderungen heranwachsen könnte. Eine verständliche Überlegung, weil das Arbeitslosenheer auch mit Blick auf die wirtschaftliche Entwicklung in Europa immer mehr auf die Verbesserung seiner schlechter werdenden sozialen Lage drängen wird und neues kreatives Denken entwickeln könnte. In Frankreich wird auf diesem Gebiet sehr intensiv geforscht. Nicht Vollarbeitszeit, sondern Arbeit für jeden ist eines solcher Modelle das auch marktwirtschaftliche Strukturen modernisieren könnte.

In welchen Strukturen arbeitet der DDR-Arbeitslosenverband?

Wir haben Bezirksstellen eingerichtet und orientieren uns auf zukünftige Länderstrukturen. In den Ortsgruppen registrieren wir in der letzten Zeit eine erfreuliche Tendenz. Immer mehr Arbeitslose kommen aus ihrer Anonymität heraus und arbeiten in den Ortsgruppen aktiv mit. Dazu muss ich aber sagen, dass wir wohl der einzige Verband dieses Landes sind, der froh wäre, keine Mitglieder zu haben.

Wer sind die Partner des Verbandes und wie finanziert er sich?

Partner und Finanzquellen sind zur Zeit die Gewerkschaften, von denen wir als Anschubfinanzierung eine Million Mark aus dem Rücklauf der FDJ-Spende erhielten. Für die Betreuung von Hunderttausenden Arbeitslosen und den notwendigen Aufbau unseres Kommunikationsnetzes ist das natürlich ein Tropfen auf den heißen Stein. Die Zusammenarbeit mit den Gewerkschaften ist deshalb eminent wichtig für uns, da Solidarität zwischen Arbeitenden und Arbeitslosen ein Grundinteresse unseres Verbandes ist. Trotzdem die Kooperation mit den Gewerkschaften ganz gut funktioniert, haben wir auch Forderungen an den Staat. Der Antrag auf Gemeinnützigkeit, mit dem wir Anspruch auf Mittel aus dem Staatshaushalt erheben, wurde vor über zwei Monaten an die Regierung gestellt, ohne dass wir bis jetzt Antwort erhalten haben. Damit droht natürlich die ganze Arbeit des Verbandes zu kippen. Mit einem offenen Brief haben wir uns zudem an alle Organisationen, Parteien, Gewerkschaften und die Regierung gewandt und Zusammenarbeit in Form einer Arbeitsgruppe angeboten, die unter unserer Führung das Problem Arbeitslosigkeit behandeln soll.

Unser Ziel ist es zu erreichen, dass politische Querelen und Kämpfe nicht auf dem Rücken der Arbeitslosen ausgetragen werden. Am 2. Juli wollen wir zum ersten Mal gemeinsam tagen. Bislang haben viele unser Gesprächsangebot angenommen, leider haben sich die Allianzparteien in Schweigen gehüllt. Das stimmt mich doch ein wenig pessimistisch.

Interview: Lutz Teske

Berliner Allgemeine, Fr. 22.06.1990

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