Deutschland - ein Jahr nach dem Runden Tisch

Von Oberkirchenrat Martin Ziegler, Bund der Evangelischen Kirchen

Für viele Menschen sind die Weihnachtszeit und der Jahreswechsel üblicher Anlass zur Rückschau. Das geht mir nicht anders. Wenn ich nun die vergangenen zwölf Monate betrachte, so fällt mir natürlich zuerst unsere Arbeit am Runden Tisch in Berlin ein, der am 7. Dezember 1989 im Dietrich-Bonhoeffer-Haus seine erste Sitzung hatte. Es ist kaum zu fassen, dass dies alles erst ein Jahr her ist, so einschneidend und tiefgehend sind die Veränderungen seither. Da hat man auch als damals direkt Beteiligter ein paar Schwierigkeiten mit der Verarbeitung.

Unter dem Druck war viel Weniger zu lösen

So sehr ich die Veränderungen in unser aller Leben, im Leben unseres Landes begrüße, bleibt da doch ein Bedauern. Denn vieles von dem, was am Runden Tisch gewollt und gesagt wurde, ist bei weitem nicht erreicht worden. Vieles ist einfach verlorengegangen. Das Schmerzlichste ist für mich, dass es nicht mehr möglich wurde, zu einer gründlichen Verfassungsdiskussion zu kommen. Dies war ein hoher Anspruch des Runden Tisches, den er sich in seiner ersten Sitzung selbst gesetzt hatte. Freilich hat der Runde Tisch einen guten Verfassungsentwurf gewissermaßen als sein Vermächtnis hinterlassen, aber es ist doch bedauerlich, dass dieser Entwurf aus Gründen des Zeitdrucks nicht einmal mehr unter den Teilnehmern selbst richtig diskutiert werden konnte.

Die Arbeit war aber dennoch nicht umsonst. Das Kuratorium für einen demokratisch verfassten Bund deutscher Länder arbeitet ja. An ihm nehmen auch viele Persönlichkeiten aus den alten Bundesländern teil. Ich denke, dass in diese Arbeit viele Ideen, vor allem aber der Geist des Runden Tisches Eingang findet, so dass der Traum von einer neuen deutschen Verfassung nicht verloren geht.

Im übrigen ist die Bundesrepublik, so wie sie sich heute darstellt, nach ihrem eigenen Selbstverständnis verpflichtet, das Grundgesetz den neuen Gegebenheiten anzupassen.

Am Ende eines so bewegten Jahres, an der Schwelle zu 1991, in dem uns vielleicht gesellschaftliche Konflikte größeren Ausmaßes bevorstehen - ich denke hier an die sich aufstauenden Probleme Ostdeutschlands - einer solchen Zeit also, bin ich gefragt worden, ob nicht ein solches Unternehmen wie der Runde Tisch eine Zukunft haben sollte. Ob er nicht ein neues Element, ein Modell praktiziertet Demokratie darstellt. Ich neige hier zur Vorsicht. So wie unser Runder Tisch in seinen vier Monaten gewirkt hat, ist er sicher nicht wiederholbar. Er war eine Notkonstruktion für eine Zeit, in der es keine legitimierten parlamentarischen und exekutiven Körperschaften gab. Man wird sich entscheiden müssen.

Wenn man parlamentarische Demokratie wirklich will, darf man keine Nebenkonstruktionen bauen, zu der der Runde Tisch doch immer mehr wurde. Man darf im übrigen nicht übersehen, dass auch dieser Runde Tisch nicht demokratisch legitimiert war. Wenn er aber dennoch eine weiterwirkende Bedeutung hat, so besteht diese sicher darin, dass neue kreative Gedanken sehr direkt in die Öffentlichkeit kamen.

Auf dem Wege der Bildung von Bürgerforen, der breiten Beteiligung vieler am politischen Geschehen, kann die Grundidee vom Runden Tisch sehr nützlich sein. Regierungen, die es mit der Demokratie ernst meinen, sollten solche Modelle daher nicht nur zulassen, sondern geradezu befördern, denn sie dienen im Ergebnis dem allgemeinen Wohl.

Tempo und Richtung sind oft verwirrend

Vielleicht werden wir überdies Anlass haben, auf diese breite politische Mitwirkung sehr deutlich zurückzukommen. Bei allen positiven Wandlungen, die wir gegenwärtig in unserem Land wie übrigens in ganz Europa erleben und die insgesamt gesehen politisch wohl unstrittig sind, empfinde ich doch auch Sorge über Tempo und Richtung vieler Dinge. Persönlich war ich immer Vertreter einer eher langsameren, weil gründlicheren Gangart. Ich will mich beileibe auch nicht als Richter aufspielen. Dennoch muss ich sagen, ich habe das Tempo, das namentlich von der Regierung de Maizière nach den Wahlen vom 18. März in diesen Prozess eingebracht wurde, nie gutheißen können. Wir beobachten doch jetzt, dass zum Beispiel die von unserem Runden Tisch einvernehmlich verabschiedete Sozialcharta praktisch vergessen ist.

Jetzt läuft alles nach altbekannten Schemata. So haben wir zwar das Arbeitslosengeld, aber wir haben keine Arbeit. Jedenfalls sehr viele von uns, und die Zahlen werden steigen. Oder nehmen wir die Investitionen. Sind denn ungeklärte Eigentumsverhältnisse wirklich der letzte Grund für den so zögerlichen Einstieg der westlichen Wirtschaft in den Osten Deutschlands? Hängt man denn etwa tatsächlich irgendwo im Westen immer noch der Idee nach, aus der ehemaligen DDR einen einzigen großen Verbrauchermarkt zu machen? Und wenn ja, wie will man denn dessen Kaufkraft überhaupt erhalten?

Hoffnungen mischen sich mit Besorgnis

Ich muss ganz deutlich sagen, dass mein Vertrauen in die soziale Marktwirtschaft durch die Ereignisse in den letzten Monaten zumindest keine Stärkung erfahren hat. Es gibt gute gründe für berechtigte Hoffnungen. Aber es mischt sich in diese Hoffnungen auch Besorgnis. Das geht vielen von uns heute so. Doch wir wollen nicht - geprägt, wie wir durch 40 Jahre DDR sind - zurück fallen in unsere alte Lethargie, jetzt, wo wir auch die frustrierenden Begleiterscheinungen des Neuen kennenlernen müssen. Hoffnung beflügelt. Ich denke, dass stimmt wortwörtlich. Wir haben viel Grund, dankbar auf das Jahr 1990 zurückzuschauen. Daraus erwächst auch Vertrauen und Hoffnungen für die Zukunft. Die Hoffnung setzt Kräfte frei, auch in uns. Das wünsche ich Ihnen, liebe "Tribüne"-Leser, für das neue Jahr.

Zuvor aber feiern Sie ein friedvolles Weihnachten.

Tribüne, Nr. 246, Mo. 24.12.1990

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