Wolfgang Templin

Der Verfassungsentwurf des Runden Tisches

Die Arbeitsgruppe "Neue Verfassung"

Mit den revolutionären Umwälzungen in Polen und Ungarn, die auf je verschiedene Weise das Ende der dortigen kommunistischen Systeme bewirkten, wurde auch ein neues Symbol des politischen Umbruchs mit friedlichen Mitteln geboren: der Runde Tisch. Dieses Vorbild und die spezifischen Erfahrungen der "friedlichen Revolution" in der DDR ließen Anfang 1990 in Ostberlin eine paritätische Runde aller etablierten politischen Parteien und der neuen oppositionellen Kräfte entstehen. Für die gemeinsame Arbeitsfähigkeit wurde vereinbart, paritätisch besetzte Arbeitsgruppen zu bilden, die die Plenarsitzungen des Runden Tisches vorbereiten sollten. Im Vordergrund standen dabei die drängendsten wirtschaftlichen und unmittelbar politische Probleme, wie die Auflösung der Staatssicherheit. Die Einrichtung einer eigenen Arbeitsgruppe für Verfassungsfragen ging auf die Initiative der neuen demokratischen Kräfte zurück, die mit dem Versuch des bloßen Ausflickens der alten stalinistischen Verfassung der DDR am wenigsten leben konnten.

Wie in anderen Arbeitsgruppen des Runden Tisches auch, stellte sich sofort die Frage nach dem Verhältnis zum Verfassungsausschuss der Volkskammer und zur Volkskammer überhaupt. Natürlich stand die Legitimität der Volkskammer und aller ihrer Organe für jeden Demokraten in Frage, nicht nur wegen der eindeutigen und massiven Fälle von Wahlfälschung, die bekannt geworden waren. Für die Übergangszeit, bis zu den ursprünglich für den Mai anberaumten Neuwahlen musste aber eine pragmatische Lösung im Verhältnis zum alten Parlament gefunden werden. Mit der Konstitution der Arbeitsgruppe Verfassung des Runden Tisches wurde eine Art Arbeitsteilung zwischen diesem Gremium und dem Verfassungsausschuss der alten Volkskammer angestrebt, die sich positiv jedoch kaum realisierte und zumeist ein Gegeneinander bedeutete.

Die ersten Arbeitsschritte

Wer saß sich in der Arbeitsgruppe "Neue Verfassung" gegenüber? Auf der Seite der alten Opposition gab es kaum Juristen oder Staatsrechtler, so liberal war das System nicht gewesen. Intellektuelle Ausbildung in anderen Disziplinen und die konkreten Erfahrungen im Umgang mit den Sicherheitsorganen und aus einem langjährigen Kleinkrieg mit den Behörden hatten aber bei einer Reihe Oppositioneller ein eigenes Rechtsbewusstsein und Rechtsverständnis entstehen lassen, auch im Hinblick auf Verfassungsfragen. Physiker, Philosophen und Theologen aber auch Leute der Praxis fanden sich als Vertreter der Opposition mit einer Reihe Berufsjuristen konfrontiert, die von den Altparteien delegiert wurden. Auch auf deren Seite ging es sehr bunt zu. Wer in den siebziger oder achtziger Jahren als Rechtstheoretiker, Berufsjurist oder Rechtsfunktionär institutionell überlebt hatte, konnte dies als überzeugter Stalinist, als innerlich längst desillusionierter, aber äußerlich weiter angepasster Mitarbeiter oder auch in einem zermürbenden Kleinkrieg innerhalb der Institutionen tun. Die Grenzen für Loyalität und Akzeptanz waren auch vor der Wende bereits fließend, solange man nicht den Schritt in die offene politische Opposition ging.

Von der Vorstellung, in der Arbeitsgruppe "Neue Verfassung" würden sich Opposition und Altparteienvertreter als zwei Blöcke gegenübersitzen, blieb nach den ersten Sitzungen wenig übrig. Nicht nur das Auseinanderfallen der Blockparteien und die schnelle Differenzierung der oppositionellen Kräfte schufen neue Fronten, fast noch stärker waren die Gegensätze zwischen konservativem und radikaldemokratischem Verfassungsverständnis und die weit auseinandergehenden Hoffnungen, was das Projekt einer neuen Verfassung für die DDR bedeuten könne.

Über die ersten prozeduralen und inhaltlichen Fragen war ein schneller Konsens möglich. Nach dem Verfahren am Großen Runden Tisch wurde jeder beteiligten Partei und Gruppierung eine Stimme zugebilligt. Ein weiterer Vertreter jeder Partei konnte hinzugezogen werden und bei Nichtanwesenheit des ersten Vertreters auch dessen Stimmrecht übernehmen. Darüber hinaus wurde die Teilnahme unabhängiger Berater aus dem In- und Ausland vereinbart. Konsensfähig war auch, dass weder die erste Verfassung der DDR von 1949 noch ihre spätere "sozialistische" Verformung eine tragfähige Grundlage für den Neuentwurf einer Verfassung sein könnten und dass auch deren bloße Umgestaltung nichts brächte. Andererseits schien es unmöglich, bis Mai 1990, also noch vor den Neuwahlen, mitten im gesellschaftlichen Umbruch und Wahlkampf eine komplette neue Verfassung zu erarbeiten. Man einigte sich deshalb zunächst auf die Erarbeitung von "Grundsätzen einer neuen Verfassung" als Diskussionsgrundlage für den Runden Tisch und die Öffentlichkeit.

In dieser ersten Phase bis Ende Januar 1990 gab es noch die Hoffnung, mit einer neuen Verfassung zu einer Demokratisierung der DDR auf eigenständiger Grundlage beitragen zu können. Es ging dabei nicht um die Fort- oder Festschreibung der Zweistaatlichkeit auf alter Grundlage, sondern um die mögliche Herstellung gleichberechtigter Beziehungen im Rahmen einer Konföderation, die für den Prozess des allmählichen Zusammenwachsens offen wäre. Unter dieser Voraussetzung wurde das Grundgesetz der BRD in seiner demokratischen Substanz herangezogen, aber nicht zum alleinigen Maßstab der Diskussion gemacht. Moderne europäische und außereuropäische Verfassungsdokumente, wie die spanische und nicaraguanische Verfassung gaben hierzu ebenso Anstöße wie die Auseinandersetzung mit der deutschen Verfassungstradition.

Entscheidung für den Verfassungstext

Als am Runden Tisch ein vorgezogener Termin für Neuwahlen am 18. März 1990 beschlossen wurde und sich die politische Landschaft der DDR durch die Intervention der bundesdeutschen Großparteien immer weiter verformte, musste sich auch die Arbeitsgruppe Verfassung neu entscheiden: Scheinbar paradox zwang die Verkürzung der Zeit zu einem größeren Vorhaben. Es zeichnete sich immer deutlicher ab, dass mit den Wahlversprechen der Bonner Parteien, mit der desolaten Lage der DDR-Gesellschaft und dem daraus erwachsenden Heißhunger auf die stabile Mark und auf stabile ökonomische Verhältnisse eine Situation entstand, die den demokratischen und emanzipativen Gehalt dieser Umwälzung als bestenfalls nebensächlich oder gar störend empfinden ließ. Wie viel Demagogie, Illusion und Verdrängung in diesen Versprechungen und Angeboten auch steckte, realpolitisch wirkten sie und ließen die Flucht aus einer Diktatur zur Flucht in die nächste Unmündigkeit werden. Weder die Probleme einer stabilen Rechtsstaatlichkeit, die sich nicht einfach dekretieren lässt, noch die Sicherung nie gekannter politischer und sozialer Rechte oder gar die übermächtige Aufgabe der Vergangenheitsbewältigung konnten mit dieser Flucht nach vorne bewältigt werden.

Bei allem politischen Dissens in der Verfassungsgruppe hatten die ersten Diskussionsrunden zum Problemkreis der Menschen- und Grundrechte, zur politischen Willensbildung und zur Staatsordnung dennoch einen tragfähigen demokratischen Konsens in entscheidenden Fragen gezeigt, so dass auf Grund der neuen Situation entschieden wurde, so schnell wie möglich den Text einer neuen Verfassung zu erarbeiten - ob nun als Dokument des Umbruchs in der DDR oder schon als eine Grundlage für den gesamtdeutschen verfassungsgebenden Prozess. Weitgehender Konsens bestand vor allem über die Notwendigkeit einer eigenständigen neuen Verfassung der DDR. Man kann die Bundesrepublik und ihr Grundgesetz so vorbildlich oder kritisch sehen wie man will, das Zueinanderfinden beider so lange getrennter Staaten ist ein grundlegender historischer Einschnitt und verlangt die gründliche Selbstvergewisserung beider Seiten über ihr Woher und Wohin. Es ist ein Neuanfang im besten Sinne, der nur unter großen Risiken und auf Kosten erheblicher demokratischer Defizite als pragmatischer Anschluss gemanagt werden kann.

Eine intensivere Auseinandersetzung mit dem Wortlaut, den historischen Entstehungsbedingungen und den jahrzehntelangen gesellschaftlichen Auseinandersetzungen um das westdeutsche Grundgesetz, machte die Rede vom verfassungsmäßigen Optimum dieses Dokumentes zur Phrase und bestärkte die Mitglieder der Arbeitsgruppe in ihrer Entscheidung, für die erste und letzte demokratische Verfassung der DDR neue Maßstäbe zu setzen. Zu den wichtigsten gehören:

- Der Katalog der Menschen- und Grundrechte wird modernisiert und um wesentliche neue Fragestellungen des Umweltschutzes, der sozialen und der Geschlechteremanzipation, der Rechte von Ausländern und Minderheiten erweitert;

- soziale Grundrechte, wie das Recht auf Arbeit, Wohnung und Bildung können zwar nicht als Garantien verstanden werden, werden aber verpflichtend festgeschrieben und sind einklagbar;

- die Friedensstaatlichkeit wird Verfassungsprinzip anstelle von Wehrpflicht oder positivem Verteidigungsauftrag;

- ein bedingtes Aussperrungsverbot;

- den Mitgestaltungsrechten der Bürger, ihrer politischen Partizipation, wird breiter Raum gewährt. Die besondere Rolle und die verfassungsmäßigen Rechte von Bürgerbewegungen sind ebenso festgehalten wie die Möglichkeiten von Volksbegehren und Volksentscheid.

Der Umgang mit diesen Maßstäben und ihre Formulierung als Bestandteile und Artikel einer neuen Verfassung stellten den intensivsten Teil der Arbeit dar. Juristischer Sachverstand und die deprimierenden Erfahrungen mit verbalen Ansprüchen und leeren propagandistischen Versprechungen einer vierzigjährigen DDR-Geschichte rieten zur nüchternen, beinahe zermürbenden Prüfung jeder guten Absicht und jedes wohlklingenden Wortes. Im Widerspruch zwischen gelungener Formulierung und eher trocken zu gewährleistender Sicherheit des juristischen Anspruchs musste letzterer obsiegen. Zunehmend wichtiger wurde die Rolle der Berater und Experten, wenn es darum ging, die politischen Ansprüche und Interessen der beteiligten Partner und Kontrahenten zu vermitteln und in verfassungsrechtlich akzeptable Formen zu bringen. Bis zuletzt blieb es aber ein ganz enges Miteinander von politischer Gestaltungsabsicht der verschiedenen demokratischen Kräfte und dem dazu organisierten Expertenwissen, ein gemeinsamer Lernprozess.

Allein die Auseinandersetzung um die Rechte der künftigen Gewerkschaften und deren Verankerung im Verfassungstext war ein Kabinettstück für sich. Probleme der Tarifhoheit und der Koalitionsfreiheit, des rechtlichen und politischen Status freier Gewerkschaften oder Fragen des Aussperrungsverbots waren für die meisten DDR-Vertreter völliges Neuland. Hier kam es wie in vielen anderen Fragen zu Kompromissen, die der politischen Zusammensetzung der Teilnehmer, der Unsicherheit über die weitere Entwicklung und dem ungeheueren Zeitdruck geschuldet waren. Die Textarbeit fiel mit ihren entscheidenden Phasen in die letzten Wochen des Runden Tisches und die unmittelbare Zeit danach, die von Wahlkampf und Koalitionsbildung bestimmt waren.

Für und Wider einer neuen Verfassung

Mit dem Termin der Neuwahlen im März stand zugleich auch der Zeitpunkt für das Ende des zentralen Runden Tisches fest: der 12. März 1990. Vom Runden Tisch ging das unmittelbare Mandat für die Verfassungsgruppe aus, dem Geist dieses Runden Tisches folgte ihre Arbeit, die bis zum 12. März nicht völlig abgeschlossen werden konnte. Am Runden Tisch musste auch die Entscheidung über das Schicksal dieses Projektes fallen. Sie fiel bei seiner letzten Sitzung:

- Die Arbeitsgruppe sollte noch im April einen Verfassungsentwurf für die Öffentlichkeit vorlegen und zur Diskussion stellen.

- Sie sollte in die Arbeit des Verfassungsausschusses der neuen Volkskammer einbezogen werden.

- Der Runde Tisch schlug der neuen Volkskammer vor, den Verfassungsentwurf nach öffentlicher Diskussion und Überarbeitung zur Volksabstimmung zu stellen.

- Da der neue Verfassungsentwurf ein Dokument auf dem Weg zur deutschen Vereinigung ist, sollte er in die Debatten über eine neue gesamtdeutsche Verfassung nach Grundgesetz Artikel 146Artikel 146 einbezogen werden.

Was schon in der Endphase des Runden Tisches und im Wahlkampf zu befürchten war, trat nach dem 18. März ein. Der schnelle D-Mark-Anschluss ohne Wenn und Aber droht einen verfassungsgebenden Prozess zum demokratischen Ballast zu degradieren, den man schnellstmöglich abzuwerfen trachtet. Der Widerwille, mit dem die neue Volkskammer den wiederholten Anträgen der Opposition zur Akzeptanz des Verfassungsentwurfes bisher begegnet ist, wiegt um so schwerer, da er nicht im mindesten durch Sachargumente getragen wird. Selbst von sozialdemokratischen Rednern der Koalition wurde der Entwurf in der Sache als modern und "vorzüglich" gewürdigt. Was anschließend zur Begründung, auf seine Behandlung zu verzichten, vorgetragen wurde, war mehr oder weniger vorgeschoben: Weder den Anschlussparteien in der Bundesrepublik noch ihren "Partnern" in der DDR kommt eine Verfassungsdiskussion gelegen. Die Sozialdemokratie steht mit schöner Inkonsequenz verbal für das Verfassungsprojekt, unterstützt es aber nicht politisch.

Als Vermächtnis des Runden Tisches und als Brücke in die neue Demokratie trägt der Verfassungsentwurf die Unterschrift aller beteiligten Parteien und Gruppierungen, einschließlich der CDU. Am weiteren Umgang damit werden sich die Chancen und das demokratische Niveau eines künftigen gesamtdeutschen verfassungsgebenden Prozesses ermessen lassen.

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