Behindertenverband mit guten Listenplätzen

Interview mit Dr. Ilja Seifert, amtierender Vorsitzender des Verbandes

Der Gründungskongress des DDR-weiten Behindertenverbandes wurde für den 12. bis 14. April ins Berliner Freizeit- und Erholungszentrum Wuhlheide einberufen. Auf der Tagesordnung stehen die Verabschiedung des Statuts, eines langfristigen Programms sowie die Wahl eines Leitungsgremiums. Ferner werden konkrete Aktivitäten des Verbandes beraten. Wir sprachen mit Ilja Seifert, dem amtierenden Vorsitzenden.

Welchen Zuspruch erfährt der Behindertenverband in unserem Land?

Ilja Seifert: Einen großen. Sowohl von den Betroffenen als auch von Seiten aller politischen Parteien und Bewegungen, die die Behindertenfrage als ein wichtiges Thema entdeckt haben. Wir schwimmen daher zur Zeit auf einer Riesenwelle ganz oben, die die Menschen für unsere Probleme sensibilisiert; die sicher wieder abebben wird, aber nicht gänzlich rückgängig gemacht werden kann. Das ist sehr wichtig und hat uns auch schon erste Erfolge gebracht. So haben wir vom Oberbürgermeister von Berlin die Zusage für einen Behindertenbeauftragten im Magistrat erhalten, der gemeinsam mit einem zu berufenden Beirat wirken wird. Dadurch werden wir unseren Einfluss auf legislativer Ebene verstärken können.

Wo liegen inhaltliche Schwerpunkte der jetzigen Arbeit?

Ilja Seifert: Am liebsten würde ich über bauliche Barrieren und über Rehabilitationstechnik reden. Bedauerlicherweise sind andere Dinge aber wichtiger geworden. Das erste ist die Sicherung des Rechts auf Arbeit, besser gesagt, die Sicherung der Möglichkeit für Behinderte, auch arbeiten zu können. Hinzu kommt die Notwendigkeit eines breiten Bildungsspektrums für alle mit den nachfolgenden Arbeitsmöglichkeiten. Sicher wird es auch in Zukunft Heimunterbringungen geben müssen, aber in wesentlich geringerem Umfang. Die verschiedensten Wohnformen müssen gesellschaftlicher Alltag werden. Dabei hoffe ich auch ganz stark auf den Zivildienst. Das sind sicher die dringendsten Dinge.

Gerade mit dem Recht auf Arbeit wird gegenüber Behinderten momentan recht verantwortungslos umgegangen . . .

Ilja Seifert: Ministerin Mensch hat bei einem Besuch bei uns wiederholt darauf hingewiesen, dass das Arbeitsgesetzbuch gilt, auch wenn es Leute gibt, die es nicht mehr ernst nehmen. Wir haben natürlich allergrößtes Interesse daran, dass das verfassungsmäßige Recht auf Arbeit nicht untergraben wird und Behinderte unter dem fadenscheinigen Vorwand mangelnder Effektivität entlassen werden. Solche Falle hat es schon gegeben, und wir haben entschieden Protest angemeldet.

Wir können natürlich nicht davon ausgehen, dass man Betriebe beauflagen kann, soundsoviel Behinderte zu beschäftigen. Auch halte ich wenig von solchen Sanktionen, bei denen sich die Betriebe mit 250 Mark von ihrer Verantwortung freikaufen können. Ich denke vielmehr, dass ein Gesellschaftskonzept erarbeitet werden muss, das die Individualität des einzelnen stärker berücksichtigt. Wir reden immer von: "jedem nach seiner Leistung", haben dabei aber den ersten Teil des Satzes jeder nach seinen Fähigkeiten, schon fast vergessen. Das ist der Punkt, an dem wir mit der Erarbeitung eines Gesellschaftskonzepts auf der Basis eines breiten Konsens einhaken müssen, denn dann würde auch der Schwerstbehinderte einen Platz finden, an dem er etwas leisten kann und nicht nur Almosen bekommt.

Welche Chance sehen Sie dafür?

Ilja Seifert: Es ist ja so, dass keine Partei sagt, sie wäre für Sozialabbau, und da sollte man sie erst mal beim Wort nehmen. Wenn ich daran denke, wie viele Parteien mich in letzter Zeit angesprochen haben und dem Behindertenverband gute Listenplätze angeboten haben, können am Ende in der Volkskammer in den verschiedensten Fraktionen Mitglieder unseres Verbandes sitzen. Ich denke, dass wir so - auch über den 18. März hinaus - über die Sozialpolitik helfen können, Brücken zu bauen, die diese Gräben, die sich zwischen den Parteien und bedauerlicherweise auch zwischen den Menschen aufgetan haben, überwinden. Auch bin ich der Auffassung - vielleicht ist das etwas illusionär - dass es zu fraktionsübergreifenden Initiativen auf diesem Gebiet kommen wird.

Das Gespräch führte
Marion Thiemann

Berliner Allgemeine, Nr. 39, Sa./So. 17./18. März 1990

Δ nach oben