Positionspapier der Arbeitsgruppe "Bildung und Erziehung" der Initiative für eine "Vereinigte Linke" (VL5)
Die VL 5 besteht aus aktiven und passiven Berliner Lehrern, Erziehern und Eltern, welche eine marxistische Weltanschauung vertreten und sich der Initiative für eine Vereinigte Linke angeschlossen haben. In unserer Arbeit haben wir uns mit dem Arbeitspapier von Hoffmann und Tiedtke sowie einem Positionspapier von Blum und Müller auseinandergesetzt. Desweiteren haben wir ein Dokumentationszentrum "Volksbildung" geschaffen.
Wir setzen uns für ein tragfähiges Bildungs- und Erziehungskonzept ein, das sich an den gesellschaftlichen Gegebenheiten orientiert. Wir gehen davon aus, dass die grundlegende Umgestaltung der Bildung und Erziehung erst durch die revolutionären Veränderungen In unserem Land möglich wird. Der Satz M. Honeckers: "Ohne klares Gesellschaftskonzept kein klares Bildungskonzept..." (Pädagogischer Kongress 1989, S. 3), ist eine Aussage, der nicht zu widersprechen ist. Demzufolge kann die Schule als staatlich institutionierte Form von Bildung und Erziehung nie besser sein, als der jeweilige Stand der gesellschaftlichen Entwicklung es ermöglicht.
Ein künftiges Bildungs- und Erziehungskonzept kann nur dann Erfolg haben, wenn es auf Grundlage einer breiten Diskussion und Mitarbeit aller Gesellschaftsschichten erarbeitet und im Konsens verabschiedet wird. Um die Mitarbeit aller Interessierten zu gewährleisten, müssen noch eine Reihe von Voraussetzungen geschaffen werden, die wir in folgenden sehen:
- Demokratisierung der Schulen, Kindergärten und der Heime der Jugendhilfe
- Abschaffung des Einzelleiterprinzips (Abwählbarkeit von Direktoren)
- Schaffung von unabhängigen Vertretungen der Kinder und Jugendlichen, der Eltern, der Lehrer/innen sowie Erzieher/Innen
- Erarbeitung konkreter Rechtsgrundlagen für die Schüler/innen, Eltern, Erzieher/innen, Lehrer/innen, die in der Verfassung verankert einklagbar sein müssen.
Die zu schaffende Rechtssicherheit ist einer der Kernpunkte für eine wirkliche Demokratisierung der Bildung und Erziehung, wie der Demokratisierung unserer Gesellschaft überhaupt Voraussetzung für Rechtssicherheit ist, dass unabhängige Gremien (legislative, exekutive) existieren bzw. geschaffen werden. Zukünftig muss ausgeschlossen sein, dass eine Personalunion entsteht.
Gegenwärtig wird die freiheitliche Bildung und Erziehung in unserem Land gefordert. Aber was ist darunter zu verstehen? Nach unserem Verständnis heißt das, Bedingungen zu schaffen, in denen "...die freie Entwicklung eines jeden zur Bedingung für die freie Entwicklung aller wird." (K. Marx) Freiheitliche Bildung und Erziehung heißt:
- keine Vermittlung von doktrinären Ideologien jeglicher Art
- Meinungsstreit ohne Ausgrenzung oder Bewertung
- Bildungsinhalte, die die Wesenskräfte menschlicher Kultur vermitteln, um die Individuelle Selbstverwirklichung zu befördern
- Anwendung unterschiedlicher Lernmethoden
- der Schüler hat die Wahl, welcher Methode der Aneignung des Lerngegenstandes er den Vorzug gibt.
Militaristische, rassistische, faschistische sowie doktrinäre Bildungsinhalte sehen wir nicht als freiheitlich an. Das heißt für uns aber nicht, sich mit solchen Gedanken und Vorstellungen nicht auseinanderzusetzen. Wir schließen uns den Auffassungen von Tiedtke und Hoffmann an:
Das Problem der Macht und der Identitätsverlust der Erziehungssubjekte
Bisherige erziehungswissenschaftliche Analysen konkreter Erziehungsprozesse konnten aus Ideologischen Gründen kaum zu den grundlegenden Ursachen von Deformation In der Erziehungspraxis vordringen. So wie die Schulpolitik ging auch die Wissenschaft davon aus, dass die hohen kommunistischen Erziehungsideale das Handeln von LehrerInnen und ErzieherInnen a priori in den Dienst der 'guten Sache' stellten. Damit wurde dem erzieherischen, Prinzip unausgesprochen das amoralische stalinistische Prinzip unterlegt, nach dem der Zweck die Mittel heiligt. Die übermäßige Politisierung der Schule und hier erzwungene weltanschauliche Bekenntnisse führten dazu, dass erzieherische Verhältnisse zu reinen Machtverhältnissen deformiert wurden. Dabei reicht das Spektrum der Machtausübung von der Zensierung über Disziplinierungsmaßnahmen bis zur Anwendung von Zwang.
Forderungen von Leherlnnen nach mehr und differenzierten Straf- und Disziplinierungsmöglichkeiten verweisen auf die im Denken fixierte Ausrichtung auf Machtausübung, die den postulierten Erziehungsidealen entgegengesetzt ist. Deshalb halten wir das Problem der Macht für ein Kardinalproblem der theoretischen und empirischen Analyse des realen Erziehungsprozesses.
Die Aufhellung der bewusst und unbewusst gebrauchten Macht im gesellschaftlichen Subsystem Schule könnte bei beginnender Forschung und im Kontext mit einem neuen Erziehungsverständnis zu veränderten Strukturen und Erziehungsinstrumentarien führen."
(aus: Die Krise des politischen Systems in der DDR und unsere Verantwortung für eine grundlegende Erneuerung von Bildungspolitik, Schulpolitik und pädagogischer Wissenschaft.)
Hieraus lässt sich ableiten: Veränderungen im Bildungswesen werden nur dann möglich sein, wenn bestehende Machtstrukturen und Abhängigkeitsverhältnisse aufgebrochen werden. Bei dieser Aufgabe ist die ganze Gesellschaft gefordert.
Betrachtet man verschiedene Äußerungen, wie künftig Bildung und Erziehung gestaltet werden sollte genau, so wird man oft den Eindruck nicht los, die beste Form der Schule sei eine solche, die alle Probleme von unseren Kindern so lange wie möglich fernhält. Wir meinen, eine solche Auffassung ist falsch. Die Schule als gesellschaftliche Institution kann Widersprüche nicht aufheben. Die gesellschaftlich wirkenden Triebkräfte und Widersprüche müssen auch in der Schule uneingeschränkt aufgezeigt werden. Erst dadurch kann die Welt als veränderbar erkannt werden. Jede idiografische oder nomothetische Betrachtungsweise, die die Wirklichkeit bzw. die Aktivität des Subjektes eingrenzt, Ist abzulehnen. Nicht Ideen bzw. Gesetze bestimmen zwangsläufig die Entwicklung der Gesellschaft, sondern die Tätigkeit der konkret-historischen Persönlichkeiten. Ziel der Bildung und Erziehung Ist ein: "Mensch, der sich durch eine Diktatur seines eigenen Gewissens positioniert, sich In Bewegungen einlässt und sich aus dem Funktionsmechanismus "Funktionieren" in den Verhaltenskodex "Agieren" emanzipiert." (Tiedtke/Hoffmann, s.o.)
Die gesellschaftliche Entwicklung muss ihren Ausdruck in der Dialektik zwischen Allgemein- und Spezialbildung finden. Das heisst fortwährendes Setzen und Lösen widersprüchlicher Seiten, z.B. Informatik und musische Erziehung - Wahl - oder Pflichtfach?
Wir treten für die Förderung aller Kinder und jeder Gruppen ein, die gegenüber anderen benachteiligt sind (z.B. Behinderte, Heimkinder).
Wir sind für die uneingeschränkte Förderung aller Interessen und Begabungen (eine ähnlich starke Förderung wie ehemals beim Leistungssport).
Die Möglichkeit des zweiten Bildungsweges muss erhalten und ausgebaut werden. Wir sind gegen die Einrichtung von Privatschulen und gegen elitäre Bildung.
Grundsätzlich zu überdenken sind die herrschenden Vorstellungen über Kinder und Jugendliche in ihren Reduktionen bzw. in den Defizitmodellen (vgl. Wessel, K.F.).
Gleichfalls sind psychologische und pädagogische Theorien (z.B. Lerntheorien) zu überprüfen und die Ergebnisse sowjetischer Autoren (Leontjew, Schukschina, Usnadze, Praugisvwili, Boschowitz) zur Bereicherung heranzuziehen. Die Autonomie der Schulen (Möglichkeit des eigenen Erziehungsstils bei festgelegten Bildungsinhalten) ist zu gewährleisten. Hierdurch kann die Tragfähigkeit moderner Erziehungskonzepte und Erziehungsstile in der Praxis überprüft werden.
Die Schulen sind von selbständigen territorialen Verwaltungseinheiten finanziell und materiell zu tragen. Internationale Erfahrungen zeigen, dass jede Investierte Mark einen drei- bis vierfachen Gewinn einbringt. Das Prinzip der Kontrolle nie durch die Volkskammer, unabhängige Arbeitsgruppen, demokratische Parteien, Organisationen und Initiativen verwirklicht werden (z.B. Volksinitiative Bildung, unabhängige Elternvertretung).
Wir halten es für unbedingt notwendig, "...bisher geltende bildungspolitische Prinzipien neu zu überdenken und öffentlich zu diskutieren." Tiedtke/Hoffmann, s.o.) Dies umfasst:
- Einheitlichkeit
- Lebensverbundenheit
- Staatlichkeit
- Weltlichkeit
- Persönlichkeitsentwicklung
(wegen Nichtreproduzierbarkeit abgetippt / red )
aus: gesammelte Flugschriften DDR `90, Heft 3, März 1990, erstellt von der Initiative für eine Vereinigte Linke, Technische Gestaltung, Produktion und Vertrieb: ASTA TU Berlin