Zu einem Modell der Realisierung gesellschaftlichen Eigentums in den Betrieben
von Roland H(...)
Die gegenwärtige Situation ist gekennzeichnet durch den fortschreitenden Machtverlust derjenigen Kräfte, die in unserem Land bisher geherrscht haben. Die bürokratisch-zentralistische Apparate sind gezwungen, die bei ihnen monopolisierte Entscheidungsgewalt aufzugeben. Für die Betriebe bedeutet das, dass es größere Eigenständigkeit und Eigenverantwortlichkeit für die betrieblichen Leitungen gibt, die bisher in allen wichtigen Angelegenheiten der zentralistischen Befehlsgewalt untergeordnet waren.
Man könnte sich nun damit begnügen, und viele Betriebsleitungen werden froh sein über die größere Eigenständigkeit.
Man darf sich hier allerdings nicht täuschen über den Fortschritt, der in den Wegfall den bürokratisch-zentralistischen Eingriffe in alle wichtigen Belange der Betriebe liegt. Er beinhaltet lediglich die Übernehme der Macht, d.h. der Entscheidungsgewalt über die Produktion durch die betrieblichen Leitungsapparate.
Es ist damit aber noch kein entscheidender qualitativer Schritt zu einem wirklichen Volkseigentum, d.h. zur wirklichen Verfügungsgewalt der Werktätigen über die sachlichen Bedingungen der Produktion getan. Sollen jetzt erste Schritte in Richtung auf gesellschaftliches Eigentum getan worden, und will man alte die bürgerlich-demokratischen Umwälzungen, die sich jetzt vollziehen, über ihren Rahmen hinaus treiben, so muss man sich die Frage stellen, wie ein Modell für den betrieblichen Entscheidungsprozess aussehen könnte, bei dem zumindest in Ansätzen die Werktätigen tatsächlich Eigentümerfunktion wahrnehmen können. Diese Ausrichtung der Überlegungen ist die einzige Möglichkeit, der Einführung kapitalistischer Marktwirtschaft ein greifbares Konzept des gesellschaftlichen Fortschritts entgegenzuhalten.
Um einem solchen Modell näher zu kommen ist es sinnvoll, zunächst ein Bild von der typischen Interessenkonstellation in den Betrieben zu machen. Sinnvoll ist dies zum einen, weil es darum geht, die Interessen der Werktätigen zu kennen, denen im betrieblichen Entscheidungsprozess Rechnung getragen werden soll. Zum anderen ist es wichtig, die den Interessen der Werktätigen entgegenstehenden Interessen deutlich zu machen. Wie die unterschiedlichen Interessen im Betrieb vermittelt werden sollen, welche Bedeutung ihnen jeweils in Entscheidungsprozess zukommen soll, müsste denn in dem Modell über den betrieblichen Entscheidungsprozess deutlich werden.
Man kann sich die Interessenkonstellation im Betrieb vereinfacht so vorstellen. Auf der einen Seite haben wir die Leitung des Betriebes, die bis jetzt noch vom Staat eingesetzt wird. Ihr Interesses ist des an einer effektiven Produktion bei möglichst geringem Aufwand. In diesem Interesse werden aber oft die Belange der Werktätigen (Lohn, Arbeitsbedingungen, umweltfreundliche Produktion, kürzere Arbeitszeit u.a.) vernachlässigt. Auf der anderen Seite sind da die Werktätigen, diejenigen also, die nicht hauptamtlich mit der Leitung des Betriebes beschäftigt sind. Ihre Interessen sind die an guten Arbeitsbedingungen, angemessenen Löhnen, umweltfreundlicher Produktion, anspruchsvollen Arbeitsinhalten u.a. Diese sollen hier bezeichnet werden als die unmittelbaren Interessen der Werktätigen.
Ein Grunddogma des administrativ-bürokratischen Sozialismus ist, dass über die unmittelbaren Interessen hinaus die Werktätigen noch das Interesse an der Steigerung der Produktion haben, analog den Interessen der staatlichen Leitung. Dies Interesse würden sie haben, weil sie ja Besitzer der Betriebe sind und wissen, dass man zuerst gut arbeiten muss um denn besser leben zu können. In diesem Sinne wurde von einer grundlegenden Interessenidentität im Betrieb ausgegangen und Konflikte gelten als unnormaler Störfall bzw. bezögen sich nur auf Vernachlässigung der unmittelbaren Interessen der Werktätigen durch die Betriebsleitung, wurden also hinsichtlich der grundsätzlichen Probleme der Leitung des Betriebes geleugnet.
Aber diese Interessenidentität besteht so nicht. Denn während die staatliche Leitung von einem technokratischen Standpunkt aus ihr Interesse an der Effektivität der Produktion entwickelt, tun die Werktätigen dies vom Standpunkt ihrer unmittelbaren Interessen aus. An die konkreten Sachprobleme der Produktion gehen also staatliche Leitung und Werktätige grundsätzlich unterschiedlich heran.
Hier liegt die Wurzel dessen, warum wir eigentlich Volkseigentum, d.h. Verfügungsgewalt der Werktätigen über die sachlichen Bedingungen der Produktion brauchen. Denn gibt man ihnen keine Chance, real in allen wichtigen betrieblichen Fragen (Produktionsprofil, Planung, Investitionen usw.) mitzuentscheiden, gibt man ihnen also keine Möglichkeit, Eigentümerfunktion wahrzunehmen, dann zementiert man die einseitige Bevorteilung der technokratischen Interessen der staatlichen Leitung mit all den möglichen negativen Folgen für die sozialen Bedingungen die Ökologie, die Arbeitswelt und eine Konkurrenz auf Kosten des Schwächeren. Wenn die staatliche Leitung von sich aus die unmittelbaren Interessen der Werktätigen in ausreichendem Maße berücksichtigen würde, wäre des sicher gut, nur bestätigt die Erfahrung das in der Regel nicht. Und in Zuge der Einführung marktwirtschaftlicher Mechanismen und Kapitalbeteiligung wird der technokratische Charakter der staatlichen Leitung noch zunehmen.
Für ein Modell des betrieblichen Entscheidungsprozesses, in den Volkseigentum realisiert wird, wäre nun zu sagen, durch welche Mechanismen, nach welchen Regeln die Entscheidungsprozesse im Betrieb so ablaufen, dass die Steigerung der Effektivität der Produktion bei maßgeblicher Beachtung der unmittelbaren Interessen der Werktätigen erfolgt. Dies kann nur so funktionieren, dass Kompromisse zwischen der staatlichen Leitung und den Werktätigen gefunden werden. Dazu aber muss man den Werktätigen solche Rechts zur Beteiligung an den betrieblichen Entscheidungen einräumen, dass sie zu einem gleichberechtigten Partner der staatlichen Leitung worden, diese die werktätigen also nicht einfach übergehen kann.
Für die Werktätigen heisst dies, dass sie sich organisieren müssen um ihre Vertreter in die Gremien der betrieblichen Entscheidungsfindung zu entsenden.
Hier liegt es nahe, über die Gewerkschaften die Interessen der Werktätigen zu vertreten. Aber erstens setzt das voraus, diejenige Tradition gewerkschaftlicher Interessenvertretung zu überwinden, lediglich hinsichtlich der unmittelbaren Interessen der Werktätigen gegenüber der Betriebsleitung Forderungen zu stellen, sich aber nicht in die direkten Leitungsprozesse einzumischen. Die Gewerkschaft nimmt also traditionell keine Eigentümerfunktion wahr. Sollte dies dennoch im Zuge der Reformen der Gewerkschaften möglich sein, bliebe zweitens das Problem, dass in Zukunft wohl nicht mehr alle Werktätigen in der Gewerkschaft organisiert sind. Wie sollen diese dann aber vertreten werden, denn das Recht auf Mitbestimmung in Betrieb kann doch nicht an eine Mitgliedschaft in der Gewerkschaft gebunden sein.
Denkbar wäre daher die Wiederbelebung einer anderen Tradition der deutschen Arbeiterbewegung. Es handelt sich um Betriebsräte, die es seit 1916/19 in Deutschland gab und die noch 1945 auch in der DDR wiedererstanden sind und bis 1948 gearbeitet heben.
Solch ein von allen Belegschaftsmitgliedern gewählter Betriebsrat könnte als Organ der Werktätigen neben den Gewerkschaften sich speziell den Fragen der Leitung des Betriebes zuwenden. Er würde nicht nur Forderungen an die staatliche Leitung stellen und mit ihr verhandeln, sondern würde selbst mitentscheiden in solchen Fragen wie Produktionsprofil, Planung, Investitionen, umweltfreundliche Produktion u.a. Über ihn könnten die Werktätigen Eigentümerfunktion wahrnehmen.
Es gäbe denn in Betrieb folgende Organe:
1. die staatliche Leitung: sie richtet ihre Tätigkeit auf die Effektivität der Produktion (von einem vorrangig technokratischen Standpunkt aus)
2. der Betriebsrat: er greift als Organ der Werktätigen direkt in die Entscheidungsprozesse der staatlichen Leitung ein und wirkt als Gegengewicht gegen technokratische und betriebsegoistische Entwicklungen / er realisiert die Eigentümerfunktion der Werktätigen und hat den Charakter eines Bestandteiles der Betriebsleitung
3. die Gewerkschaft: sie signalisiert Interessenkonflikte, artikuliert die unmittelbaren Interessen der Werktätigen (was auch gegenüber dem Betriebsrat wichtig ist) und sie tritt der Betriebsleitung gegenüber als fordernder Verhandlungspartner auf / sie kümmert sich vorwiegend um die sozialen Belange der Werktätigen
Durch die Trennung von Betriebsrat und Gewerkschaft ist nicht die Einheit der Arbeiterklasse oder eine einheitliche Interessenvertretung der Werktätigen zerstört. Es ist nur dem Rechnung getragen, dass längst nicht alle Werktätigen sich unmittelbar in den betrieblichen Entscheidungsprozess einschalten wollen. Für diejenigen, die dieses Interesse nicht haben, sich aber dennoch organisieren wollen um ihre Interessen zu vortreten, ist die Gewerkschaft die adäquate Organisation. Eigentümerfunktion wird aber erst wahrgenommen, wenn man nicht nur als Verhandlungspartner der Betriebsleitung auftritt, sondern wenn man selbst mitentscheidet über die grundlegenden Fragen des Betriebes. Daher die Notwendigkeit eines Organs der Werktätigen, das von ihnen gewählt wird und diese Funktion wahrnimmt. Der Betriebsrat bietet also größere Möglichkeiten als die Gewerkschaft, den Einfluss der Werktätigen auf die Produktion und des Betriebsgeschehen geltend zu machen. Um diese Möglichkeiten zu nutzen, ist anzustreben, dass in den Betriebsrat nur diejenigen Werktätigen gewählt werden, die den Willen und die Fähigkeit haben, in den betrieblichen Entscheidungsprozess Alternativen einzubringen, die ausgehend von den unmittelbaren Interessen der Werktätigen Vorstellungen über die Art und Weise der Effektivitätssteigerung beinhalten. Diese Alternativen müssten technokratischen, unsozialen und ökologisch gefährlichen Entscheidungen der Betriebsleitung entgegenwirken. Ob für eine solche Tätigkeit genügend Leute sich bereit finden und fähig sind, davon hängt u.a. ab, ob wir die Chance einer Alternative zum modernen Kapitalismus haben. Darüber hinaus hängt das auch davon ab, welche konkreten Rechte und folglich welche Macht der Betriebsrat hätte, um gleichberechtigt in der Betriebsleitung mitentscheiden zu können. (Im Gegensatz auch zum Betriebsrat im Kapitalismus.)
[ohne Datum]
aus: 1. DDR - weites Arbeitstreffen der Initiative Vereinigte Linke 25./26. November 1989, Konferenz Reader, Herausgeber: Initiative Vereinigte Linke Berlin