Zur Problematik sozialistischer Perspektiven von Reformen in der DDR
(Das Manuskript stammt vom März 1989, seinerzeit vorbereitet zur Veröffentlichung im "Kontext". Es wurde im Dezember 1989 geringfügig überarbeitet.)
"Der Kommunismus ist für uns nicht ein Zustand, der hergestellt werden soll, ein Ideal, wonach die Wirklichkeit sich zu richten haben (wird). Wir nennen den Kommunismus die wirkliche Bewegung, welche den jetzigen Zustand aufhebt." (Marx/Engels, Die deutsche Ideologie, Werke Bd. 3 S. 35)
Selbstverständlich sind in heutigen Ländern des realen Sozialismus kapitalistische Zustände in mancherlei Hinsicht aufgehoben. Anzufragen ist aber
- ob diese Verhältnisse so gestaltet sind, dass sie sich ohne weitere tiefgreifende (revolutionierende) Wandlungen in Richtung auf Zustände bewegen, die die Bezeichnung "Sozialismus" als Übergangsgesellschaft zu entwickelten kommunistischen Verhältnissen zu Recht beanspruchen können;
- ob bereits inganggesetzte oder anstehende politische und ökonomische Reformen geeignet sind, eine solche Entwicklung zu bewirken oder wenigstens zu befördern.
Nachstehende Ausführungen sollen dazu dienen, diese Fragen, vor allem mit Bezug auf die DDR, zu beantworten.
Seit jeher hatte die politische Führung der DDR, auch schon in den Jahren vor der Staatsgründung, ihre Probleme mit der Kategorie "Sozialismus". Eingedenk schmerzlicher Erfahrungen mit Linksradikalismus und Sektierertum im den 20er und frühen 30er Jahren, frustriert vom Misserfolg der Bemühungen um die Herstellung eines politisch effizienten breiten antifaschistisch-demokratischen Bündnisses (als deutsche Variante der von Stalin ab der Mitte der 30er Jahre zu spät verordneten Volksfrontpolitik), sollte die Fortführung dieser Linie nach 1945 (proklamiert durch den Gründungsaufruf der KPD vom 11.6.45) diese Politik nachträglich rechtfertigen und die führende Rolle der KPD (später SED) demokratisch legitimieren.
Zwar war trotz aller faschistischen ideologischen Verseuchung breitester Kreise der deutschen Bevölkerung, auch der Arbeiterklasse, klar, dass eine progressive und friedliche Entwicklung Deutschlands nur auf dem Wege zum Sozialismus gesichert sein kann, zwar entsprachen die gesellschaftlichen Reformen der 40er Jahre (Bodenreform, Nationalisierung der Großindustrie und der Großbanken, Schul- und Justizreform, vor allem die restlose Zerschlagung des alten Staatsapparates) bis in Details den ersten Maßnahmen der jungen Sowjetmacht 1917/18, aber trotzdem wurde ihr sozialistischer bzw. den Sozialismus vorbereitender Charakter bestritten. In der Darstellung des Charakters der sich vollziehenden gesellschaftlichen Umwälzungen folgte die Parteiführung in jeder Entwicklungsetappe in erster Linie aktuellen pragmatischen Erwägungen (was nachträgliche Umbewertungen unter veränderten außen- und innenpolitischen Verhältnissen und nach ebenfalls pragmatischen Kriterien nicht ausschließt.
So war bis 1951 ideologisch und theoretisch unzulässig, die antifaschistisch-demokratische Ordnung in der sowjetischen Besatzungszone und der späteren DDR als eine Variante volksdemokratischer Entwicklung zu bezeichnen. Dimitroffs Auffassung, dass diese Ordnung in ihrer ersten Phase ihrem klassenmäßigen Wesen nach die von Lenin ("Zwei Taktiken der Sozialdemokratie in der demokratischen Revolution") definierte Diktatur der Arbeiter und Bauern unter Hegemonie des Proletariats und mit sozialistischer Zielrichtung sei, wurde für die DDR erst nach der 2. Parteikonferenz 1952 zugelassen. In theoretischen Arbeiten und politischen Reden (z.B. von W. Ulbricht) aus der Zeit davor werden diese Umwälzungen lediglich mit dem indifferenten Adjektiv "demokratisch" versehen und politisch mit der konsequenten Realisierung des Potsdamer Abkommens motiviert.
Hauptgrund dafür war, dass die Zukunft Deutschlands in der Nachkriegsstrategie stalinscher Außenpolitik überhaupt noch nicht klar war, insofern als Stalin offenbar davon ausging, ein entmilitarisiertes und entmonopolisiertes geeintes Deutschland entspräche hinreichend sowjetischen Sicherheitsinteressen.
Nur so ist auch verständlich, warum plötzlich, unter Berufung auf Lenins für das, Russland von 1905 aufgestellte These von der revolutionär-demokratischen Diktatur der Arbeiter und Bauern unter Hegemonie des Proletariats der auf Sozialismus zielende Charakter dieser Reformen geleugnet wurde. Mit Hinweis auf die Einheit Deutschlands wurde jede Tendenz, das Wesen der Veränderungen auf Sozialismus zielend oder gar den Sozialismus unmittelbar vorbereitend, als sektiererisch verurteilt. Typisch hierfür waren die Maßregelungen gegen jene, die 1951 die Gründung der ersten landwirtschaftlichen Produktionsgenossenschaften initialisiert hatten. Es versteht sich von selbst, dass diese Genossenschaften sofort wieder aufgelöst wurden, während Ulbricht im Juli 1952 auf der 2. Parteikonferenz (nunmehr von der Parteiführung beförderte) LPG-Gründungen besonders lobend hervorhob.
Hatte Fred Oelßner, seinerzeit Mitglied des Politbüros und Sekretär des ZK der SED, von zahlreichen marxistischen Gesellschaftswissenschaftlern auf der ersten ökonomischen Konferenz der DDR (Humboldt-Universität 1951) durch Fragen nach dem Charakter der Produktionsverhältnisse in den volkseigenen und SAG-Betrieben in die Klemme gebracht, keinen anderen Ausweg gewusst, als diese als "latent-sozialistisch" zu definieren (was für realsozialistische Verhältnisse der Gegenwart keine schlechte Definition wäre), so reichte der Beschluss der 2. Parteikonferenz 1952, um sozusagen über Nacht diese Betriebe in "sozialistische" und die Periode von 1949 bis 1952 rückwirkend in die des Übergangs von der antifaschistisch-demokratischen Ordnung zum planmäßigen Aufbau des Sozialismus zu verwandeln.
Nunmehr wurde ganz deutlich:
- ob antifaschistisch-demokratische Umwälzung (1945/49);
- Übergang zum planmäßigen Aufbau des Sozialismus (1949/52);
- ob Aufbau der Grundlagen des Sozialismus (1952/61);
- Aufbau der entwickelten sozialistischen Gesellschaft (ab 1971);
die Definitionen entsprechen nicht der Analyse objektiver ökonomischer und anderer gesellschaftlicher Verhältnisse, sondern dienten der ideologischen Legitimation aktueller und von der Parteiführung angestrebter Verklärungen.
Dabei ist besonders verwirrend, welchem "theoretischen" Wechselbad pragmatischer Reflexion sich der Sozialismusbegriff dabei selbst zu unterziehen hatte.
War in den 40er und 50er Jahren noch klar, dass es erstens eine Übergangsperiode zum Sozialismus gibt und zweitens (nach Marx Kritik des Gothaer Programms") der Sozialismus selbst nur eine Übergangsgesellschaft zum Kommunismus darstellt, so stellte Ulbricht in den 60er Jahren plötzlich fest, dass es sich dabei um eine relativ selbständige Gesellschaftsformation handle, in der sich z.B. auch so etwas wie eine "sozialistische Menschengemeinschaft" entwickelt hätte (eine beschworene Scheinrealität, der breite christliche Kreise noch zu Beginn der 80er Jahre nachtrauerten).
Hatte Honecker bei der Begründung des Parteiprogramms von 1976 festgestellt, dass mit der weiteren Gestaltung der entwickelten sozialistischen Gesellschaft "die grundlegenden Voraussetzungen für den allmählichen Übergang zum Kommunismus" als einer "Aufgabe, die nicht erst übermorgen zu lösen ist", geschaffen werden, so wurde spätestens mit dem spektakulären Auftritt von Otto Reinhold im Westfernsehen 1986 klar, dass die SED-Führung vor kommunistischen Zielstellungen kapituliert und aus ihrer Agitation und Propaganda gestrichen hatte.
Wurde bis in die Mitte der 80er Jahre jede "Wendung" und Kurskorrektur mit Bezugnahme auf die von Stalin formulierten "leninschen" allgemeinen Gesetzmäßigkeiten der sozialistischen Revolution begründet, so wurde mit Beginn der Gorbatschow-Ära, wiederum unter Berufung auf Lenin, die Maxime des Rechts nationaler Eigenständigkeit missbraucht, um auf alten Positionen zu beharren (Sozialismus in den Farben der DDR).
Die Funktion all dieser "Definitionen" und "Begründungen", bestand darin, angepasst an die jeweilige innen- und außenpolitische Situation, die politbürokratische Herrschaft der Parteiführung ideologisch abzustützen. Tatsächlich bewirkten sie dagegen, den Sozialismus unter der Bevölkerung der DDR (wie auch in anderen realsozialistischen Ländern, aber auch bei den Werktätigen im Westen) in einer Weise zu diskreditieren, dass Reformpolitik weithin als Chance verstanden wird, den realen Sozialismus auf den Weg der sozialen Annäherung an die auf marktwirtschaftlichen Prinzipien basierende "freie Welt" zu bringen. Dies ist umso fataler, als friedliche Koexistenz in der gegenwärtigen Situation zwar als einzige Alternative zur Gefahr des Umschlagens der großen globalen Krisen (Ost-West-Konflikt; Nord-Süd-Konflikt; Mensch-Natur-Konflikt) in globale Katastrophen angesehen werden muss, aber auch "Neues Denken" bei Weiterexistenz der Herrschaft der beiden Gesellschaftssysteme in ihrer gegenwärtigen sozialökonomischen Verfassung nicht mehr zu leisten in der Lage ist, denn als Krisenmanagement herzuhalten. Die wirklichen Ursachen dieser Krisen sind nur bei weltweitem Übergang zu sozialistischer Entwicklung zu beseitigen. Das schließt nicht aus, dass "Neues Denken" selbst derartige Entwicklungen zu befördern fähig ist.
Ulbricht und andere Ideologen behaupteten in den 60er Jahren, dass 1945 in Deutschland eine Situation bestand, die die sozialistische Entwicklung im ganzen Land auf die Tagesordnung setzte. Aber es liegt in der Verantwortung derjenigen deutschen politischen Kräfte, die im Einklang mit den politischen Absichten der jeweiligen Besatzungsmacht, von ihr abhängig und gleichzeitig von ihr gestützt, nach Kriegsende ihre Macht installierten, dass es in beiden deutschen Teilen ( aus ganz unterschiedlichen, z.T. gegensätzlichen, Gründen mit divergierenden Zielsetzungen) nicht zu einer solchen Entwicklung kam.
Während sich jedoch in Westdeutschland, der Strategie der imperialistischen Führungsmacht folgend, einer der stärksten monopolkapitalistischen Staaten entwickelte, entstand im Osten ein Staat, in Abhängigkeit von der Strategie der realsozialistischen Führungsmacht, in dem mit der Beseitigung des Privateigentums an den entscheidenden Produktionsmitteln, vielen anderen gesellschaftlichen Umgestaltungen und dem weitgehenden Ausschöpfen realsozialistischer Entwicklungsmöglichkeiten gute materielle Bedingungen für eine künftige sozialistische Entwicklung geschaffen wurden. Je länger diese Entwicklung allerdings unter massivem Einsatz politischer, vor allem administrativer, Machtmittel verhindert wurde, umso größer wurden die jetzt von uns zu tragenden gesellschaftlichen Kosten einer solchen Umgestaltung, umso geringer wurden die Chancen, dass dies überhaupt möglich wird.
Angesichts aktueller Entwicklungen, wonach das Schwinden realsozialistischer Antriebsimpulse selbst solche realsozialistischen "Spitzen"-Länder, wie die DDR, in aussichtslose Sackgassen getrieben hat, wächst die Gefahr, dass gerade in einem solchen Land unumgänglich werdende Reformen eine Entwicklung ingangsetzen, die den postkapitalistischen Charakter der gegenwärtigen ökonomischen und übrigen gesellschaftlichen Verhältnisse wieder aufhebt.
Reformprogramme jeder Art sind also von Sozialisten dahingehend zu beurteilen, ob sie nicht nur geeignet sind, Stagnationstendenzen und Antriebslosigkeit zu überwinden, sondern, ob sie damit auch eine Entwicklung befördern, die der DDR die Chance sozialistischer Entwicklung bietet.
Das immer deutlicher hervortretende Problem auf der Suche nach solchen Entwicklungen ist der offenbar wachsende Widerspruch
- einerseits zwischen den objektiven Bedingungen sozialistischer Entwicklung (Niveau der Produktivkräfte, postkapitalistische oder sogar präsozialistische Produktions- und andere gesellschaftliche Verhältnisse), sowie der wachsenden Erkenntnis, dass jede Art von Fremdbestimmung, gleichviel ob in Form staatsmonopolistischer Sozialstaatlichkeit oder realsozialistischer Staatlichkeit auf Dauer - auch im Zeitalter "Neuen Denkens" nicht geeignet ist, die globalen Probleme menschlicher Fortexistenz zu lösen) und
- andrerseits einem sich verstärkenden Bewusstsein breiter Bevölkerungskreise in der DDR, dass das Heil allein in dem Erringen bürgerlich-demokratischer Freiheiten westlicher Provenienz, ökonomisch gegründet auf den umfassenden Einsatz marktwirtschaftlicher Prinzipien sieht, unterstützt von einer, staatlichen Reformpolitik, die in der Produktion an die Stelle der Herrschaft des Politbüros die Allmacht der Kombinatsdirektoren setzt.
Nun ist aber Sozialismus nur vorstellbar als eine Ordnung, in der sich die Selbstbestimmung der Werktätigen entwickelt. Das Maß an realisiertem Sozialismus kann nur an der Reife dieser Selbstbestimmung gemessen werden, also daran, inwieweit die Individuen die Möglichkeit haben, die gesellschaftlichen Verhältnisse selbst zu gestalten und inwieweit sie auch die Fähigkeit erworben haben, dies bewusst im Interesse gesellschaftlichen Fortschritts zu tun. Wolfgang Reischock hat meine volle Zustimmung, wenn er schon im Februar '89 in der Weltbühne schrieb:
"Der Sozialismus hat die Selbstverwirklichung des Menschen, die freie Entfaltung der Persönlichkeit auf seine Fahnen geschrieben (wozu die Ökonomie und die Technik entscheidende Mittel sind mitunter könnte man zu dem Glauben verleitet sein, sie seien der Zweck). Und andrerseits bedarf der Sozialismus zu seiner Entwicklung als Gesellschaft entwickelter Persönlichkeiten, die sich vermöge ihrer individuellen Potenzen in diesen Entwicklungsprozess einbringen und ihn so voranbringen." (Individualität und Gesellschaft, Heft 9/89 S. 261)
Diese Prämisse verbietet Sozialisten, eine sozialistische Entwicklung unter Einsatz staatlicher Machtmittel erzwingen zu wollen ( was den Einsatz staatlicher Macht gegen militante Feinde des Sozialismus keinesfalls ausschließt).
Sozialismus ist für uns ein gesellschaftlicher Entwicklungsprozess, der ökonomisch auf der Vergesellschaftung der Produktionsmittel basiert wobei die Beseitigung kapitalistischen Privateigentums hierfür nur den Ausgangspunkt darstellt), also der kollektiven und bewussten Aneignung der Produktionsmittel. Ob die Fortexistenz der Ware-Wert-Beziehungen auf dem Wege der sozialistischen Entwicklung historisch begrenzt ist oder nicht, mag die Zukunft entscheiden. Wichtig erscheint dagegen, dass es für das Schicksal der Entwicklung sozialistischer Selbstbestimmung ausschlaggebend ist, ob es gelingt, das Wirken der marktwirtschaftlichen Gesetzmäßigkeiten so unter Kontrolle zu halten, dass betriebliche und volkswirtschaftliche Selbstverwaltung als Ausdruck der Herrschaft des Menschen über das anarchische Wirken ökonomischer Gesetze nicht ihrem eigenen Selbstverständnis und ihrem sozialen Sinn geopfert wird. Mit anderen Worten: wer Selbstverwaltung solcher Art Wirken des Wertgesetzes aussetzt, läuft Gefahr, die Selbstverwaltung dem Markt zu opfern.
Dabei ist zu beachten, dass jede durch staatliche Regulation bewirkte Einschränkung des Wirkens des Wertgesetzes auch dessen stimulierende und innovationsbegünstigende Wirkungen einschränkt. Somit wird klar, dass die Überlegenheit des Sozialismus, seine Fähigkeit, menschlicher Entwicklung eine zukunftsträchtige Perspektive zu bieten, nicht an diese marktwirtschaftlichen Kategorien gebunden werden darf. Reformprogramme, die darauf berechnet sind, dass der Sozialismus sozusagen als optimale Verbindung von gesellschaftlichem Eigentum und Marktwirtschaft anzusehen ist, sind als "ökonomistisch" und der Entwicklung sozialistischer Selbstbestimmung abträglich anzusehen.
Damit wird für das Schicksal sozialistischer Entwicklung die Weiterführung der politische Reform auf, das Gebiet der Wirtschaft entscheidend. Nur so wird die leninsche These vom Primat der Politik über die Ökonomie für diese Etappe in Richtung auf sozialistische Entwicklung sinnvoll. Wenn Ulbricht 1958 auf dem V. Parteitag der SED zu Recht feststellte, dass die ökonomische Überlegenheit des Sozialismus auf dem Bewusstsein der werktätigen bei der Gestaltung des Produktionsprozesses und der Planmäßigkeit der Entwicklung beruht, so ist eben zur Realisierung dieser beiden genuin sozialistischen Triebkräfte auf eine Weise, die sie wirklich den ökonomischen Triebkräften kapitalistischer Warenwirtschaft überlegen macht, eine politische Reform unabdingbar, die den breiten werktätigen Massen ermöglicht,
- die Vorteile der Verfügungsgewalt über die Produktionsmittel und -ergebnisse zu erkennen und zu nutzen;
- den Sinn individuellen Einsatzes zur Lösung gesamtgesellschaftlicher und gemeinsamer Aufgaben zu erkennen und nachzuvollziehen;
- zu Lebensmaximen vorzustoßen, die ein neues (sozialistisches) Wertesystem zum gesellschaftlichen Bewusstsein entwickeln (Priorität ökologischer Erfordernisse, internationaler Solidarität und Gerechtigkeit, Gestaltung der Arbeitsbedingungen in Richtung auf die Entwicklung der Arbeit zum ersten Lebensbedürfnis), kurz, die Sinnhaftigkeit menschlichen Lebens nicht auf den Erwerb materieller Güter zu beschränken.
Einziger Weg, eine solche Entwicklung politisch in Gang zu setzen, scheint uns der Übergang zu rätedemokratischen Formen politischer und ökonomischer Gestaltung der Gesellschaft, bei denen gesichert ist, dass an die Stelle des bürgerlichen Prinzips, wonach Abgeordnete nur ihrem Gewissen (also der Partei, die ihnen ermöglicht hat, gewählt zu werden) verantwortlich ist, der Grundsatz (der mit allen erdenklichen politischen Sicherheiten auszustatten ist) tritt, wonach die/der Deputierte ausschließlich an die Verantwortung gegenüber ihren/seinen Wählerinnen gebunden ist.
In einem solchen System indirekter Wahlen und jederzeitiger Abrufbarkeit der Deputierten durch ihre Wählerinnen wird die Frage der Zahl der Parteien zweitrangig. Entscheidend wird hingegen, dass das Selbstverständnis von Parteien im Sozialismus (angesichts der Priorität der Bindung der Abgeordnetenmandate an den WählerInnenwillen) nicht zu vergleichen ist, mit den politischen Ambitionen von Parteien in bürgerlich-palamentarischen Ländern und dem autoritären Machtanspruch sogenannter kommunistischer Parteien in realsozialistischen Ländern.
Es steht für mich außer Zweifel, dass es keinem realsozialistischen (wie auch keinem anderen Land) allein möglich sein wird, den Weg einer sozialistischen Entwicklung der beschriebenen Art erfolgreich zu beschreiten. Für das Schicksal des Sozialismus in der Welt wäre nach wie vor die günstigste Variante, wem die industriell und technologisch entwickeltsten Länder einen solchen Weg einschlügen. Aber die Gruppe der Länder des "realen" Sozialismus verfügt über soziale und ökonomische Voraussetzungen, die den Versuch lohnen. Wenn sich jedoch hierfür kein paralleler und gemeinsamer Kampf breiter Volksmassen in allen (oder wenigstens fast allen) dieser Länder entwickeln sollte, werden auch die Versuche in einzelnen dieser Länder scheitern. Zwar ist die sozialistische Perspektive in Ländern des realen Sozialismus angesichts vorgefundener Bewusstseinslage breiter werktätiger Schichten sicher nicht als ausgesprochen günstig einzuschätzen. Auszuschließen ist sicher auch nicht, dass der Sozialismus erstmals in ganz anderen Regionen der Welt zu Tage tritt. Aber ebenso sicher ist für mich, dass "realsozialistische" Fortexistenz (gegründet auf Produktionsverhältnissen, die die Arbeiter von der Verfügungsgewalt über die Produktionsmittel und die Ergebnisse der Produktion trennen) die Entwicklung der menschlichen Gesellschaft zu sozialistischen Lebensweisen zunehmend behindert. Eben daraus ergibt sich unsere nationale und internationalistische Verantwortung im Hinblick auf die Unterstützung oder Kritik wirtschaftlicher Reformprogramme und die Verpflichtung, die Entwicklung in den Betrieben ins Zentrum unserer Aufmerksamkeit zu rücken.
aus 1. DDR - weites Arbeitstreffen der Initiative Vereinigte Linke 25./26. November 1989, Konferenz Reader, Herausgeber: Initiative Vereinigte Linke Berlin