Berichte über die Sitzung der Volkskammer am 17.06.1990
Mit mehr als zweistündiger Verspätung begann die Sondersitzung der Volkskammer am Sonntagnachmittag in Berlin. Auch Bonner Politprominenz, darunter Bundeskanzler Helmut Kohl hatte auf der Zuschauertribüne gewartet Der Auftakt - ein Paukenschlag von der DSU-Fraktion. Völlig überraschend forderte deren Fraktionssprecher Jürgen Schwarz einen Beschluss der Volkskammer zum Beitritt der DDR zur BRD nach Artikel 23 des Grundgesetzes "mit dem heutigen Tag". Nach einer emotionsgeladenen Debatte entschied das Parlament, den DSU-Antrag erst einmal in einige zuständige Ausschüsse zu verbannen. Damit ist nun zwar die Gangart zu "Deutschland, einig Vaterland" erneut beschleunigt, aber der Beitritt "mit dem heutigen Tag",- wie leichtfertig von der DSU verlangt - nicht akzeptiert worden.
Die Weichen des Abstimmungszuges stellte Ministerpräsident Lothar de Maizière, der auf Antrag der PDS-Fraktion zu dem brisanten Ansinnen einer Vereinigung im Handstreich Stellung nahm. Bei aller prinzipiellen Zustimmung, die aus seinen Worten deutlich wurde, formulierte der Premier die für die Einheit nach Artikel 23 notwendigen Voraussetzungen. Dazu gehört seines Erachtens ein zweiter Staatsvertrag, die Schaffung von kompatiblen Länderstrukturen und die sorgfältige und psychologische Verknüpfung innerer und äußerer Aspekte des Prozesses der deutschen Einigung. Er empfahl die Überweisung des Antrags in die Ausschüsse. Dr. Günther Krause folgte namens der Fraktion CDU/DA dieser Vorgabe.
Die Meinungen im Bündnis 90/Grüne gingen auseinander. So informierte der Abgeordnete Konrad Weiß über die ursprüngliche Absicht einer interfraktionellen Gruppe - (Parlamentarier von Bündnis 90/Grüne, CDU, SPD), ebenfalls einen Antrag zum sofortigen Beitritt der DDR zur BRD einzubringen, der letztlich nicht zustande gekommen sei, da Abgeordnete ihre Unterschrift zurückgezogen hatten. Er persönlich hätte den Weg über die Erarbeitung einer gemeinsamen deutschen Verfassung nach einem Volksentscheid, einen politisch gestalteten Weg bevorzugt. Er kritisierte die von der Regierungskoalition veranstaltete "Hatz in die Einheit die jegliche politische Vernunft vermissen lässt", ebenso die "Entmündigung der Volkskammer bei der Aushandlung des Staatsvertrages" und die Ablehnung des Verfassungsentwurfes des Runden Tischs. Sein Fraktionskollege Prof. Jens Reich sprach sich gegen eine "deutsche Einheit als Kaiserschnitt in Mark-ose" aus. In einem einzigen Satz könne man die Einigung nicht vollziehen, hielt er der DSU entgegen. Vorbedingungen seien u. a. die Sicherung der polnischen Westgrenze, die Definition des künftigen militärischen Status Deutschlands und die Schaffung föderativer Länderstrukturen.
Der frühere Ministerpräsident Hans Modrow (PDS) engagierte sich für den demokratischen Vollzug und die Wahrnehmung der nationalen Verantwortung in dieser Stunde. Es gehe um das Vertrauen unserer Nachbarn und der europäischen Völker, um das, was auch international recht sei. Was gebraucht werde, sei Berechenbarkeit sowohl der Regierung als auch des Parlaments der DDR. Er erinnerte an das in der Regierungserklärung enthaltene Versprechen, die Bürger in Würde und aufrecht in die Einheit zu führen. Heute dagegen erlebe man scheinbar "den Nachweis der eigenen Unfähigkeit der Regierung, den komplexen und anspruchsvollen Prozess der Vereinigung zu beherrschen und zu meistern." Hans Modrow erinnerte ebenfalls an den Entwurf des Runden Tischs und sprach von einer verpassten Chance, wenn es keinen Volksentscheid über die Verfassung des künftigen vereinigten Deutschlands gebe.
Das "Grundsatzurteil" von SPD-Fraktionsvorsitzendem Richard Schröder zum DSU-Ansinnen: Die deutsche Vereinigung müsse im Einvernehmen mit den Großmächten erfolgen. Vollzöge man die Vereinigung mit dem heutigen Tag, würde die Sowjetunion am Abend davon in Kenntnis gesetzt, dass sie 400 000 Soldaten auf dem Gebiet des Geltungsbereiches des Grundgesetzes habe. "So kann man mit der Sowjetunion nicht umgehen", unterstrich er.
Die Sondersitzung blieb auch im folgenden eine besondere Sitzung des Hohen Hauses. Bei der kontroversen Debatte um die Verfassungsgrundsätze, die vom Sprecher der PDS-Fraktion, Prof. Uwe-Jens Heuer, ebenso wie von Dr. Wolfgang Ullmann (Bündnis 90/Grüne) scharf attackiert und abgelehnt wurden, traten offensichtlich gravierende Meinungsunterschiede auch innerhalb der Regierungskoalition zutage.
Finanzminister Walter Romberg (SPD) erklärte mit Blick die DBD-Forderung, die Ergebnisse der Bodenreform festzuschreiben, er sehe keine Möglichkeit eventuelle spätere Entschädigungsforderungen aus dem Staatshaushalt zu begleichen. Er frage sich, woher sie kommen sollten. In ungewöhnlich schroffer Art entgegnete daraufhin Premier de Maizière: "Der Logik des Satzes folgend, wird es nicht mehr der Staatshaushalt sein, den Sie zu verantworten haben."
Nach diesem Eklat und anschließender Pause kam man doch noch zur Abstimmung, und zwar nach der sogenannten Hammelsprung-Methode. Das Parlament verließ den Saal und je nach persönlicher Entscheidung betrat man den Raum wieder durch die linke (nein) ; rechte (ja) oder mittlere (Enthaltungen) Tür. Das Ergebnis: 269 Hammelsprünge für die Verfassungsgrundsätze, die den Sozialismus endgültig aus der DDR-Verfassung eliminieren. Mehrheitliche Zustimmung fand schließlich auch das umstrittene Treuhandgesetz.
Neues Deutschland, Mo. 18. Juni 1990, Jahrgang 45, Ausgabe 139
Gestern stand das Ende der DDR als Staat auf der Tagesordnung der Volkskammer. Auf der mit zweistündiger Verspätung begonnenen Sitzung stellte die Fraktion der DSU den Antrag auf Beitritt zum BRD-Grundgesetz nach Artikel 23 und zwar "mit dem heutigen Tage".
Mit einer Zwei-Drittel-Mehrheit wurde diese Schicksalsfrage dann noch zusätzlich auf die Tagesordnung gesetzt. Die Annahme des Antrages hätte für die Volkskammer das Aus bedeutet, denn das Grundgesetz kennt nur ein nationales Parlament und das heißt Bundestag und sitzt immer noch in Bonn. Auch für Lothar de Maizière wäre dies der letzte Tag als Premier gewesen; er hätte die Amtsgeschäfte persönlich an Bundeskanzler Helmut Kohl übergeben können, denn der saß währenddessen freundlich lächelnd auf der Besuchertribüne des Plenarsaales
Lothar de Maizière mahnte dann auch gleich zur Mäßigung und Besonnenheit, wobei er keinen Zweifel daran ließ, dass auch er für einen schnellen Beitritt sei. Zuvor aber bedürfe es eines zweiten Staatsvertrages, der die Rahmenbedingungen dafür festschreibt. Außerdem müssten die Länder auf dem Gebiet der DDR gebildet sein. Er verwies auch auf die äußeren Aspekte, die es zu beachten gelte. Eine Annahme des DSU-Antrages wäre eine völlige Brüskierung der 2 + 4-Verhandlungen gewesen. Vollendete Tatsachen hätten jedes weitere Treffen der Teilnehmer überflüssig gemacht.
Die Einheit müsse in Übereinstimmung mit den Großmächten erfolgen, forderte auch für die SPD deren Fraktionssprecher Richard Schröder. Staatsvertrags-Chefunterhändler Günter Krause sprach sich im Namen der CDU/ DA für einen Beitritt noch im Sommer aus. Ein zweiter Staatsvertrag sollte dafür die Modalitäten aushandeln und mit dem Tag gemeinsamer Wahlen - der Termin liegt für ihn zwischen dem 2. und 16. Dezember dieses Jahres - in Kraft treten. Zuvor sollten am 23. September Landtagswahlen stattfinden.
Mit Mehrheit wurde der DSU-Antrag an die Ausschüsse für Verfassung und Recht sowie den innerdeutschen Ausschuss verwiesen. Dort ist er zunächst einmal gut aufgehoben.
Danach stand ein Gesetz zur Änderung und Ergänzung der Verfassung auf der Tagesordnung. Damit soll die Verfassung mit den Erfordernissen des Staatsvertrages in Einklang gebracht werden und alles Hinderliche, was noch an die sozialistische DDR erinnert, endgültig über Bord geworfen werden. Darin ist der besondere Schutz des privaten Eigentums festgeschrieben, die Unabhängigkeit der Gerichtsbarkeit und der Schutz der Umwelt ausdrücklich hervorgehoben. Aber auch der Abtritt von Hoheitsrechten an zwischenstaatliche Einrichtungen sowie solche der BRD ist in den veränderten Artikeln verankert.
Der Gesetzentwurf stieß auf scharfe Ablehnung der Oppositionsfraktionen, die darin nicht mehr, sondern weniger Rechtssicherheit sehen. Sie erinnerten an den Verfassungsentwurf des Runden Tisches, der einst im Konsens erarbeitet worden war. Der Entwurf wurde aber trotzdem mit Zwei-Drittel-Mehrheit angenommen.
Am Abend stand noch die dritte Lesung des Treuhandgesetzes über die Reorganisation und Privatisierung des volkseigenen Vermögens auf dem Programm. Die Tagung dauerte bei Redaktionsschluss noch an.
Berliner Zeitung, Mo. 18.06.1990, Jahrgang 46, Ausgabe 139