9. Volkskammer 11. Tagung 13.11.1989
Berichte aus Berliner Zeitung, Junge Welt, Neues Deutschland, Neue Zeit, National Zeitung
Seit gestern hat die Volkskammer einen neuen Präsidenten. Auf der 11. Tagung wählten die Abgeordneten den Vorsitzenden der DBD, Dr. Günther Maleuda. Nachdem am frühen Abend einstimmig der Ministerrat abberufen worden war - der aber bis zur Neuwahl der Regierung geschäftsführend im Amt bleibt -, wurde Dr. Hans Modrow auf Vorschlag der SED-Fraktion zum Vorsitzenden des Ministerrates bei einer Gegenstimme gewählt. Die oberste Volksvertretung beauftragte ihn mit der Regierungsbildung. Die 12. Tagung wurde für kommenden Freitag und Sonnabend einberufen.
Die Wahl Dr. Günther Maleudas zum Volkskammerpräsidenten stand allerdings erst nach Stunden fest. Zwei von den Abgeordneten und Beobachtern mit Spannung verfolgte geheime Wahlgänge gingen dem voraus. Zunächst hatten fünf Fraktionen eigene Kandidaten vorgeschlagen. Beim ersten Wahlgang erhielten Dr. Günther Maleuda (DBD) 185 Stimmen, Prof. Dr. Manfred Gerlach (LDPD) 111, Christine Wieynk (CDU) 62, Prof. Dr. Manfred Mühlmann (NDPD) 61 sowie Prof. Dr. Dr. h. c. Günther Drefahl (Kulturbund) 53 Stimmen. Fünf Stimmen waren ungültig. Für eine Wahl wäre jedoch die absolute Mehrheit der abgegebenen Stimmen nötig gewesen.
So mussten sich die beiden bestplatzierten Kandidaten zur Stichwahl stellen. Die Auszählung gestaltete sich zeitweilig zu einem Kopf-an-Kopf-Rennen. Schließlich ergab sich, dass 246 der 477 abgegebenen Stimmen auf den DBD-Vorsitzenden entfielen. Bei einer ungültigen Stimme votierten 230 Abgeordnete für Prof. Gerlach. Nach dieser zeitaufwendigen Prozedur und der Mittagspause übernahm Dr. Günther Maleuda von dem zweitältesten Abgeordneten der Volkskammer Hans Jendretzky (SED) die Tagungsleitung. Er verlas den gemeinsamen Vorschlag aller Fraktionen des Hohen Hauses zur Wahl des stellvertretenden Präsidenten sowie der elf Mitglieder des Präsidiums der Volkskammer.
In offener Abstimmung und im Block wurden bei einer Gegenstimme und drei Stimmenthaltungen gewählt: Dr. Werner Jarowinsky (SED) als Stellvertreter des Präsidenten der Volkskammer sowie als Mitglieder des Präsidiums die Abgeordneten Dr. Käthe Niederkirchner (SED), Michael Koplanski (DBD), Wolfgang Heyl (CDU), der aus Krankheitsgründen nicht an der Tagung teilnehmen konnte, Hans-Dieter Raspe (LDPD), Günter Hartmann (NDPD), Christel Bednareck (FDGB), Eva Rohmann (DFD), Dr. Cornelia Wolfram (FDJ), Prof. Dr. Karl-Heinz Schulmeister (Kulturbund), Manfred Scheler (VdgB) und Heinz Eichter, Sekretär des Staatsrates.
Nachdem das neugebildete Präsidium seine Plätze eingenommen hatte, trat die Volkskammer in eine Aussprache zur politischen Lage im Lande ein. Sprecher der zehn Fraktionen, die Redezeit für sie war auf je 15 Minuten begrenzt worden, machten Vorschläge zur Erneuerung von Politik und Wirtschaft in der DDR.
Dr. Werner Jarowtnsky verwies in seiner Rede auf das kürzlich veröffentlichte Aktionsprogramm der SED, das er als Angebot seiner Partei für die Gestaltung der Zukunft bezeichnete. Für die DBD forderte deren Abgeordneter Michael Koplanski, nicht nur die Schuldigen für die Krise zur Verantwortung zu ziehen, sondern auch die ehrlichen Funktionäre von jedem Verdacht freizusprechen. Christine Wieynk für die CDU äußerte Enttäuschung darüber, dass die Regierung, ohne Rechenschaft vor dem Parlament abgelegt zu haben, zurückgetreten sei. Hans-Dieter Raspe (LDPD) betonte, dass jetzt viele für sich in Anspruch nehmen, die Wende herbeigeführt zu haben. Dies sei jedoch ausschließlich durch das Volk auf der Straße geschehen. Günter Hartmann von der NDPD forderte u. a. ein Zollgesetz, das die DDR vor der Ausplünderung schützt. Der FDGB, so Annelis Kimmel, werde sich in seiner Arbeit dem Schutz der kollektiven und individuellen Interessen seiner Mitglieder verpflichtet fühlen. Eva Rohmann für den DFD bekräftigte noch einmal den Vorschlag ihrer Organisation, einen Volkskammerausschuss für Frauentragen zu bilden, in dem der DFD den Vorsitz übernehmen wolle. Lutz Ahnfeld (FDJ) kritisierte scharf die durch das alte Präsidium der Volkskammer verschuldete Verzögerung zur Einberufung dieser Tagung. Drastische Vorschläge zur Reform der Volkswirtschaft unterbreitete Manfred von Ardenne (Kulturbund), darunter die Abkehr vom hoch bürokratischen Zentralismus und die Auflösung unbeweglicher, zentral geleiteter und aller bezirksgeleiteten Kombinate. Manfred Scherer verwies für die VdgB auf die katastrophale Versorgung der Landwirtschaft, insbesondere der Tierproduktion, mit Maschinen und Anlagen.
Den Äußerungen der Fraktionssprecher schloss sich eine kontroverse, teils hitzig geführte Debatte an. Scharf wurde vor allem die Tätigkeit von Mitgliedern der bisherigen Regierung von den Abgeordneten kritisiert. Rechenschaft wurde u. a. verlangt von Ministerpräsident Willi Stoph, Volkskammerpräsident Horst Sindermann, den Ministern für Staatssicherheit, Erich Mielke, für Finanzen, Ernst Höfner, für Hoch- und Fachschulwesen, Hans-Joachim Böhme, sowie vom Vorsitzenden der Staatlichen Plankommission, Gerhard Schürer. Mit Erregung im Plenum wurde mehrere Male konstatiert, dass der obersten Volksvertretung über Jahre wichtige Informationen zur wirtschaftlichen Lage vorenthalten wurden, sie teilweise vorsätzlich belogen wurde. Mit Erschrecken nahmen die Abgeordneten zur Kenntnis, dass die Inlandsverschuldung inzwischen eine Höhe von 130 Milliarden Mark erreicht hat.
Die Äußerung des ehemaligen Volkskammerpräsidenten, dass eine Lage entstanden sei, die alle überrascht habe, stieß im Plenum auf starke Erregung und Zwischenrufe wie "uns nicht". Der bisherige Ministerpräsident übernahm für die augenblickliche Lage die politische Verantwortung, versuchte jedoch, sich damit zu entschuldigen, dass die Kompetenz des Ministerrates oftmals eingeschränkt worden sei. Auf erregte Zwischenfragen "Von wem?" verwies er auf den ehemaligen Staatsratsvorsitzenden, Erich Honecker, und den früheren Wirtschaftssekretär Günter Mittag. Unverständnis bei den Abgeordneten rief die Weigerung Gerhard Schürers hervor, über die Devisenlage des Landes Auskunft zu geben. Diese Zahlen seien geheim, auch für die Abgeordneten der obersten Volksvertretung.
Mehrere Abgeordnete forderten während der Debatte, sofort einen zeitweiligen Untersuchungsausschuss zu bilden, der Fälle von Amtsmissbrauch. Korruption, ungerechtfertigter persönlicher Bereicherung sowie weitere gesetzwidrige Handlungen aufklärt. Dem entsprach das Hohe Haus einstimmig. Entsprechend der Verfassung würde in begründeten Fällen auch die Immunität von Abgeordneten aufgehoben werden. Bis zur 12. Tagung der Volkskammer sind die Fraktionen aufgefordert, Vorschläge für die Mitarbeit in diesem Gremium zu unterbreiten. Dort wird auch der neue Ministerpräsident seine Regierungserklärung abgeben und die von ihm vorgeschlagenen Minister zur Wahl stellen. Von unseren Berichterstattern Axel Knack und Rainer Stephan
Berliner Zeitung, Nr. 268, 45. Jahrgang, Di. 14.11.1989
Aus der Aussprache zur politischen Lage auf der 11. Tagung der obersten Volksvertretung der DDR
In der sich den Ansprachen der Fraktionssprecher anschließenden weiteren Debatte schätzte die vorsitzende des Ausschusses für Haushalt und Finanzen, Rosel Walther (NDPD), ein, dass es der Volkskammer seit Wochen unmöglich sei, über die Grundfragen der Staatspolitik zu entscheiden.
Harry Trumpold (LDPD) schlug dem Parlament vor, bis zur Entscheidung über eine neue Verfassung durch Volksentscheid den Absatz 1 im Artikel 1 der Verfassung bis auf die erste Zeile Die DDR ist ein sozialistischer Staat sofort auszusetzen.
Die Nationale Front brauche eine neue Positionsbestimmung, stellte Nationalratspräsident Prof. Dr. Dr. Lothar Kolditz (Kulturbund) fest. Es hätten sich im Aufbruch neue gewichtige Gruppen gebildet, die am demokratischen und sozialistischen Neuaufbau des Staates auf dem Boden der Verfassung mitwirken werden.
Sie fühle sich bei ihrer bisherigen parlamentarischen Tätigkeit teilweise benutzt und missbraucht, sagte die Abgeordnete Dr. Cornelia Wolfram (FDJ) und nannte dazu Plankorrekturen und ständig "ausgewogene" Haushaltsrechnungen. Es müsse ein für allemal der Vergangenheit angehören, dass die Abgeordneten wie vorgekommen erst zwei Stunden vor Beschlussfassung einen Gesetzentwurf zu Gesicht bekommen. Im Auftrag ihrer Wähler stellte sie die Frage an Hochschulminister Böhme, wie es möglich sei, dass jahrelang ein Bau von Studenteninternaten trotz Ministerratsbeschluss und Drängen ihrer Fraktion nicht möglich war, er jedoch vor drei Wochen den sofortigen Bau von 1 000 Plätzen verkünden konnte. Minister Böhme sagte dazu, dass die bisherige Errichtung notwendiger Internatsplätze an bürokratischer, undemokratischer Arbeitsweise des Ministerrates scheiterte. Persönlich habe auch er seine Arbeitsweise zu wenig auf das Parlament ausgerichtet, antwortete er auf weitere Anfragen.
Der bisherige Volkskammerpräsident Horst Sindermann (SED) nahm zu gegen ihn erhobenen Vorwürfen Stellung, in einer für das Land komplizierten Situation die Einberufung einer Tagung der höchsten Volksvertretung hinausgezögert zu haben. Es sei eine Lage entstanden, sagte er, „die uns alle überrascht hat" und auf die man in jener Zeit keine Antwort gewusst habe. Es sei so gewesen, als ob 40 Jahre Sozialismus unter den Füßen weggerutscht seien. Horst Sindermann entschuldigte sich, wies aber die Anschuldigung zurück, Amtsmissbrauch begangen zu haben.
Der Abgeordnete Willi Stoph (SED) erklärte, dass er als Ministerpräsident die politische Verantwortung dafür übernehme, wofür die Regierung der DDR heute unter Kritik stehe. Der Ministerrat sei seinen verfassungsmäßigen Pflichten in der Vergangenheit nicht voll nachgekommen, jedoch wäre seine Kompetenz eingeschränkt gewesen. Durch Entscheidungen, die nicht im Ministerrat getroffen worden seien, sei die planmäßige proportionale Entwicklung der Volkswirtschaft der DDR beeinträchtigt gewesen. Da in dieser Frage noch keine entschiedene Wende verzeichnet werden konnte, habe die Regierung ihren Rücktritt beschlossen.
Mit eine Anfrage, weshalb die Kompetenz des Ministerrats eingeschränkt gewesen sei, verwies Willi Stoph auf die Veröffentlichungen von der jüngsten ZK-Tagung der SED, in der Ursachen dargelegt worden seien. Verschiedene zentrale Entscheidungen seien weder von beschlussfassenden Gremien der SED, der Volkskammer oder des Ministerrates getroffen worden. Dies betreffe unter anderem Entscheidungen im Bereich der Mikroelektrik und das Düngemittelwerk Rostock. Man habe sie nachträglich erfahren und nachträglich „in den Plan hineinbringen" müssen. Als Verantwortliche für diese Einschränkungen nannte Stoph den früheren Staatsratsvorsitzenden- und SED-Generalsekretär Erich Honecker und den früheren stellvertretenden Vorsitzenden des Staatsrates, Politbüromitglied Günter Mittag.
Auf die Anfrage, inwieweit es eine Staatsverschuldung der DDR gebe, erklärte Finanzminister Ernst Höfner, dass die DDR über einen ausgeglichenen Haushalt verfüge. Es sei dabei aber nicht dargestellt worden, dass dieser Ausgleich zum Teil auf der Aufnahme von Krediten beruhte. Diese Verbindlichkeiten hätten vor der Volkskammer aber genannt werden müssen. Dafür trage er als Finanzminister die Verantwortung. Zur inneren Staatsverschuldung sagte der Minister, dass der Wohnungsbau zu einem großen Teil aus Krediten bezahlt worden sei, was auch ausgewiesen worden sei. Bei der Zahlung der Tilgungen gebe es keinen Rückstand. Die Gesamtsumme dieser Verbindlichkeiten betrage Ende des Jahres rund 55 Milliarden Mark. Diese Art der Finanzierung sei legitim, der Einsatz von Krediten für den Wohnungsbau entspreche einer internationalen Gepflogenheit und entspreche auch der eigenen Tradition. Auch eine Reihe von großen Investitionen seien aus Krediten bezahlt worden. Sie müssten, wenn sie wirksam werden, aus dem Gewinn dieser Einrichtungen zurückgezahlt werden. Diese Kredite in Höhe von zehn Milliarden Mark seien also auch materiell gedeckt. Verschlechtert habe sich die Rentabilität des Exports. 1980 habe der Aufwand für die Erwirtschaftung einer Valutamark 2,40 Mark der DDR betragen, heute stehe er bei 4,40 Mark. Aus dieser Verschlechterung der Kurse seien volkswirtschaftliche Verluste entstanden. Der Umfang dieser Abwertungsverluste, der in den neunziger Jahren zu zahlen sei, betrage 65 Milliarden Mark der DDR.
Auf die Frage eines Abgeordneten zur Devisenlage antwortete Dr. Gerhard Schürer, Vorsitzender der Staatlichen Plankommission. Zur NSW-Verschuldung , könne er keine Angaben machen, da diese - bisher - noch als Geheime Verschlusssache gelten.
In der Aussprache zur politischen Lage in der DDR hatte entsprechend der im Demokratischen Block und den Fraktionen getroffenen Vereinbarung jede Fraktion 15 Minuten und jeder einzelne Sprecher 5 Minuten Redezeit.
Lutz Ahnfeld für FDJ-Fraktion:
Im Namen der FDJ-Fraktion schlug deren Vorsitzender Lutz Ahnfeld angesichts der Verschleppung der Volkskammertagung vor, mit einer überarbeiteten Geschäftsordnung zu sichern, dass künftig niemand sein Amt missbrauchen und den Willen der Abgeordneten umgehen kann. Auch in Zukunft könne das Parlament weder auf die Mitwirkung der Arbeiter noch auf eine Fraktion der Jugend verzichten. Die FDJ spreche sich für eine Koalition der Vernunft aller sozialen und weltanschaulichen Kräfte und aller Generationen aus. Ein neues Wahlgesetz müsse diesem Anspruch Rechnung tragen.
Nach ausführlicher Diskussion sollte der Termin für Volkskammerwahlen festgelegt werden. Die FDJ schlugt für effektivere Parlamentsarbeit einen festen Modus der Tagungen von Fraktionen, Ausschüssen und Plenum vor. In einer Koalitionsregierung sollte die FDJ über einen Minister verfügen. Außerdem rege sie die Schaffung eines Ministerrums für Jugend. Sport und Tourismus an.
Werner Jarowinsky für SED-Fraktion:
Seine Partei habe mit dem vorgelegten Aktionsprogramm radikale Schlussfolgerungen aus einer widersprüchlichen und komplizierten Situation, einer tiefen Krise im Lande gezogen. Die Fraktion halte Veränderungen in der Verfassung für erforderlich. Diese bedürften der soliden Vorbereitung und gründlichen Erörterung. Jarowinky erachtete für die weitere Ausgestaltung des sozialistischen Rechtsstaates in der DDR unter anderem ein neues Wahlgesetz, ein neues Vereinigungsgesetz und ein Mediengesetz als unumgänglich. Freie, allgemeine, demokratische und geheime Wahlen sollten die Alternative zwischen Kandidaten und Parteien zulassen und in jedem Stadium kontrollierbar sein. Die SED sei für eine Koalitionsregierung. Die Fraktion schlägt weiter die Bildung einer Expertengruppe DDR/BRD/Berlin (West) vor, die alle Fragen des Reiseverkehrs erörtern sollte.
Christine Wieynk für CDU-Fraktion:
Die Bereitschaft der CDU, für einen erneuerten Sozialismus auf deutschem Boden zu wirken, unterstrich Christine Wieynk. Diese Aufgabe dulde jedoch keine Zeit und keinen Aufschub. Aus der Heimat DDR solle wieder ein Land mit eigener Identität, mit politischer und geistiger Kultur, ein Staat uneingeschränkter Menschenrechte werden, der seinen Beitrag in das Werk des Friedens, der Gerechtigkeit und der Bewahrung der Schöpfung einbringe. Das Land bedürfe einer noch Inhalt und Geist neue Regierung. Christine Wieynk sprach über die Versäumnisse der CDU in der Vergangenheit und würdigte in diesem Zusammenhang die Arbeit der Kirchen, die sich um die Zukunft des Landes verdient gemacht hätten.
Manfred von Ardenne für Fraktion des Kulturbundes:
In der gegenwärtigen politischen Lage der DDR sei Vertrauen nicht durch Worte, sondern nur durch Taten zu gewinnen, betonte Prof. Dr. h. c. mult. Manfred von Ardenne. Das sei bei der atemberaubenden Öffnung der Grenzen und der Wandlung der Medien bereits geschehen. Namens der Fraktion des Kulturbundes forderte er weitere Reformen, so die Zulassung und Entfaltung unabhängiger Parteien und alternativer Gruppierungen auf dem Boden der Verfassung, demokratisch kontrollierte freie und geheime Wahlen, die es dem Wähler erlaubten, sich zwischen verschiedenen Programmen und Kandidaten zu entscheiden sowie Unabhängigkeit und weitgehende Entscheidungsfreiheit für den Ministerrat. In sieben Punkten unterbreitete der Redner Vorschläge zur Erhöhung der Effizienz der DDR-Wirtschaft. Die gegenwärtigen Vorgänge in der DDR seien in ihrer Gewaltlosigkeit und Besonnenheit vielleicht einmalig. Es sei die Chance, und vielleicht die letzte in der DDR, zu einem menschenwürdigen und attraktiven Sozialismus zu finden. Prof. von Ardenne warnte dabei vor halbherzigen Stritten. Das Gebot der Stunde seien radikale Veränderungen in der Struktur von Wirtschaft und Gesellschaft.
Annelis Kimmel für FDGB-Fraktion:
Für die Gewerkschafter sei es jetzt das Dringendste, zu sichern, dass der Wille der Werktätigen materiell untersetzt wird, in Produktion, in Forschung und Entwicklung und in allen anderen Bereichen ergebnisreich und kontinuierlich zu arbeiten, sagte Annelis Kimmel. Das betreffe Zulieferungen, Ausrüstungen und Arbeitsbedingungen. Niemand erwarte schlagartige Änderungen, aber erste sichtbare Schritte in die richtige Richtung. Der Vorschlag, die 40-Stunden-Arbeitswoche auf der Grundloge einer höheren Effektivität der Volkswirtschaft einzuführen, habe viele Diskussionen ausgelöst. Es wurde darauf aufmerksam gemacht, dass dies nicht die Forderung des Tages sein könne, aber Ziel bleiben müsse. Interessenvertretung heiße auch, dafür zu sorgen, dass wichtige soziale Errungenschaften nicht verlorengehen.
Michael Koplanski für DBD-Fraktion:
Die SED und die Regierung, sagte der Sprecher der DBD Fraktion, hätten sich als unfähig erwiesen, die Ursachen der krisenhaften Entwicklung an den Wurzeln zu fassen. Er forderte von der zu wählenden Regierung eine schonungslose Offenlegung der ökonomischen Lage einschließlich Finanzen und Devisen. Koplonski sprach allen Werktätigen, die besonders in den vergangenen Wochen täglich ihre Pflicht für die Lebensfunktionen der Wirtschaft geleistet haben, Dank und Anerkennung aus. Der Redner bekundete seine Genugtuung darüber, dass der Generalstaatsanwalt eine Untersuchung von Fällen des Funktionsmissbrauchs und der Korruption - eine Initiative der DBD aufgegriffen habe. Das müsse dazu führen, Schuldige zur Rechenschaft zu ziehen und alle ehrlichen Funktionäre von jedem Verdacht zu befreien.
Erklärung der Liberaldemokraten
Die LDPD respektiert die Entscheidung der Volkskammer, heißt in einer Erklärung der Partei. Es ging und geht nicht darum, die LDPD zu profilieren. Uns Liberaldemokraten treibt die Sorge um dieses Land, und uns bewegt der Wille, zu integrieren und eine tragfähige Koalition zur Überwindung des nationalen Notstandes bilden zu helfen. Die Lage ist kritischer, als viele Bürger noch noch glauben mögen.
Wir halten die Aufarbeitung der Geschichte unseres Landes unter dem Aspekt, wie es zu Stagnation und Machtmissbrauch kommen konnte, für dringlich. Die dafür verantwortlichen Politiker müssen zur Rechenschaft gezogen werden, nicht nur politisch von ihrer Partei. Die Neubestimmung der Politik der LDPD schließt ein, dass sie sich im Widerspruch - in Opposition - zu allen politischen und gesellschaftlichen Kräften und zu allen Entscheidungen begibt, die der demokratischen Umgestaltung entgegenstehen.
Junge Welt, Organ des Zentralrats der FDJ, Di. 14.11.1989
Berlin (ND). In einer Lage, da eine revolutionäre Volksbewegung einen Prozess der gesellschaftlichen Umwälzungen in Gang gebracht hat und sich die DDR im Aufbruch befindet, trat die Volkskammer zu ihrer von vielen Abgeordneten seit langem geforderten 11. Tagung zusammen. Sie diskutierte in mehrstündiger kritischer und kämpferischer Aussprache die Lage in der Republik.
Im Mittelpunkt standen Reformen des politischen Systems. Die oberste Volksvertretung beriet mit knapper Mehrheit den Vorsitzenden der DBD, Dr. Gunther Maleuda, zu ihrem Präsidenten und mit großer Mehrheit ein neues Präsidium. Sie wählte mit einer Gegenstimme Dr. Hans Modrow, Mitglied des Politbüros des ZK der SED, zum Vorsitzenden des Ministerrates und beauftragte ihn mit der Bildung einer Regierung.
Mehrheit im zweiten Wahlgang erreicht
Über dieser Sitzung lag die Spannung, die bedeutenden Entscheidungen vorangeht: Mit ihr begann die Volkskammer, ohne Bevormundung ihre Rechte und Pflichten als einziges verfassungs- und gesetzgebendes Organ, souveränes Machtorgan, uneingeschränkt wahrzunehmen.
Hans Jendretnky (FDGB-Fraktion) leitete als zweitältester Abgeordneter den ersten Teil der Tagung. Er teilte mit, dass der Präsident der Volkskammer, Horst Sindermann, der Stellvertreter des Präsidenten, Gerald Götting, sowie alle Mitglieder des Präsidiums zurückgetreten sind. Außerdem Informierte er über eine Mitteilung des Vorsitzenden des Staatsrates der DDR, dass dieser der nächsten Tagung der Volkskammer den Antrag auf Änderung der Zusammensetzung des Staatsrates unterbreiten wird.
Einer Festlegung des Demokratischen Blocks und aller Fraktionen entsprechend, unterbreitete Hans Jendretzky den Vorschlag für die Tagesordnung, der denn einmütig gebilligt wurde: An ihrer Spitze stand die Wahl des Präsidenten der Volkskammer in geheimer Abstimmung. Für dieses Amt hatten sich fünf Abgeordnete beworben: Prof. Dr. Dr. h. c. mult. Günther Drefahl (Kulturbund), Prof. Dr. Manfred Gerlach (LDPD), Dr. Günther Maleuda (DBD), Prof. Dr. Manfred Mühlmann (NDPD) und Christine Wieynk (CDU). 478 Abgeordnete waren anwesend. Erforderlich war die absolute Mehrheit.
Die öffentliche, von je einem Abgeordneten jeder Fraktion beobachtete Auszählung ergab dass 477 Abgeordnete an der Wahl teilgenommen hatten. Es entfielen auf Günther Drefahl 53, Manfred Gerlach 11, Günther Maleuda 185, Manfred Mühlmann 61 und Christine Wieynk 62 Stimmen. Damit hatte, wie die Ergebnisurkunde auswies, keiner die absolute Mehrheit erreicht. Fünf Stimmzettel waren ungültig: Ein zweiter Wahlgang zwischen Dr. Günther Maleuda und Prof. Dr. Manfred Gerlach machte sich erforderlich. In der davor liegenden Pause trafen sich die Fraktionen, um sich zu beraten.
An dieser erneutes geheimen Abstimmung zwischen den beiden Kandidaten mit der höchsten Stimmzahl nahmen 477 Abgeordnete teil. Gewählt war also der Kandidat, der mindestens 239 Stimmen erreichte. Die neuerlich öffentliche Auszählung ergab 230 Stimmen für Manfred Gerlach und 248 für Günther Maleuda. Eine Stimme war ungültig.
Tagungsleiter Hans Jendretzky stellte fest, dass damit Dr. Günther Maleuda mit Mehrheit zum neuen Präsidenten der Volkskammer der DDR gewählt wurde. Er gratulierte unter dem Beifall der Abgeordneten dem Präsidenten und übergab Am die Tagungsleitung.
Volkskammerpräsident Dr. Günther Maleuda erklärte, nachdem er seinen Platz eingenommen hatte: "Sie haben mir in einer schicksalsschweren Zeit ihr Vertrauen entgegengebracht. Ich möchte mich für dieses große Vertrauen bedanken und Ihnen versichern, dass ich meine ganze Kraft dafür einsetzen werde, dass die Erwartungen, die an unsere oberste Volksvertretung der Deutschen Demokratischen Republik gerichtet wurden, mit der Kraft und Autorität der Abgeordneten in Erfüllung gehen."
Viele Anfragen in lebhafter Debatte
Die Abgeordneten wählten Dr. Werner Jarowinsky (SED) zum Stellvertreter des Präsident der Volkskammer und als Mitglieder den Präsidiums Dr. Käthe Niederkirchner )SED), Michael Koplanski (DBD), Wolfgang Heyl (CDU), Hans-Dieter Raspe (LDPD), Günter Hartmann (NDPD), Christel Bednareck (FDGB), Eva Rohmann (DFD), Dr. Cornelia Wolfram (FDJ), Prof. Dr. Karl-Heinz Schulmeister (Kulturbund der DDR), Manfred Scherler (VdgB) und Heinz Eichler (Sekretär des Staatsrates der DDR).
Der Volkskammerpräsident dankte im Namen des Präsidiums sehr herzlich für das erwiesene Vertrauen.
Nach der Pause traten die Abgeordneten entsprechend dem Tagesordnungspunkt 3 in die Aussprache zur politischen Lage in der DDR.
Für die Fraktion der SED ergriff als erster Redner Dr. Werner Jarowinsky das Wort. Das Aktionsprogramm ist unser Standpunkt für die tiefgreifende Umgestaltung der DDR, die revolutionäre Erneuerung unseres Landes, erklärte er. Das Aktionsprogramm sei zugleich das Angebot der SED für den Weg in die Zukunft. Im weiteren Verlauf der Debatte sprachen Michael Koplanski (DBD), Christine Wieynk (CDU), Hans-Dieter Raspe (LDPD), Günter Hartmann (NDPD), Annelis Kimmel (FDGB), Eva Rohmann (DFD), Lutz Ahnfeld (FDJ), Prof. Dr. Manfred von Ardenne (Kulturbund) und Manfred Scheler (VdgB).
In der lebhaften Debatte äußerten sich weitere Abgeordnete zu aktuellen Problemen, übten Kritik und stellten Fragen. Es sprachen Rosel Walther (NDPD), Prof. Dr. Harry Trumpold (LDPD), Prof. Dr. Burkhard Schneeweiß (CDU), Prof. Dr. Dr. Lothar Kolditz (Kulturbund), Thomas Peinke (DBD), Monika Werner (SED), Dr. Cornelia Wolfram (FDJ), Horst Sindermann (SED), Prof. Dr. Gerd Staegemann (NDPD), Lothar Fichtner (SED) und Gisela Unrein (FDGB). Zu Wort meldeten sich der Ministerpräsident Willi Stoph und die Minister Gerhard Schürer und Erich Mielke. Aus dem Plenarsaal kamen zahlreiche Anfragen von Abgeordneten an den Ministerrat. Sie wurden von den genannten Ministern sowie von Prof. Dr. Hans-Joachim Böhme und Ernst Höfner beantwortet.
Zum Abschluss der vielstündigen Debatte dankte Abgeordneter Hermann Kant (Kulturbund) unter dem Beifall der Mitglieder der Volkskammer dem 92jähngen Hans Jendretzky für seine Tätigkeit in der Leitung der Sitzung. Die Volkskammer fasste den Beschluss, auf der Grundlage von § 28, Abs. 2 der Geschäftsordnung der Volkskammer einen zeitweiligen Ausschuss zu bilden, der sich mit der Überprüfung von Fällen des Amtsmissbrauchs, der Korruption, der ungerechtfertigten persönlichen Bereicherung und anderer gesetzwidriger Handlungen befasst, bei denen der Verdacht der Verletzung der Strafgesetze besteht. Falls die Vorwürfe Abgeordnete der Volkskammer betreffen, muss über die Aufhebung ihrer Immunität entschieden werden. Alle Fraktionen werden in diesem Beschluss beauftragt, bis zur 12. Tagung der Volkskammer je zwei Mitglieder für die Mitarbeit in diesem Ausschuss zu benennen. Auf der 12. Tagung der Volkskammer soll seine Zusammensetzung beschlossen werden. Die zuständigen Ausschüsse sollen sich ebenfalls mit dieser Problematik beschäftigen.
Der Volkskammerpräsident forderte dann dazu auf, die in der Debatte unterbreiteten Vorschläge und Hinweise schriftlich dem Präsidium einzureichen, damit sie in die Vorbereitung der nächsten Tagung einfließen können.
Im 4. Punkt der Tagesordnung entsprach die Volkskammer einem Antrag des Vorsitzenden des Ministerrates, Willi Stoph, den Vorsitzenden und die Mitglieder des Ministerrates unter Bezugnahme auf Art. 80 der Verfassung abzuberufen. Der Ministerrat wird seine Tätigkeit als geschäftsführende Regierung bis zur Neuwahl des Ministerrates fortsetzen. Der Präsident der Volkskammer bezeugte dem Ministerrat den Respekt für den Dienst an der Deutschen Demokratischen Republik.
Am Freitag erneut Volkskammertagung
Zum 4. Punkt der Tagesordnung lag dem Präsidium ein Antrag der SED-Fraktion vor, den Abgeordneten Hans Modrow zum Vorsitzenden des Ministerrates zu wählen. Der Antrag nimmt Bezug auf Art. 79 Abs. 2 der Verfassung. Die Wahl Hans Modrows erfolgte gegen eine Stimme. Lang anhaltender Beifall folgte der Abstimmung. Dr. Günther Maleuda beglückwünschte Dr. Hans Modrow im Namen der Volkskammer sehr herzlich zu der ihm übertragenen Aufgabe und wünschte ihm in seinem Wirken an der Spitze der Regierung, einem Organ der obersten Volksvertretung, eine erfolgreiche Arbeit. Schließlich beauftragte die Volkskammer den Vorsitzenden des Ministerrates, den Ministerrat der DDR zu bilden und der Volkskammer den Vorschlag für die Wahl der Mitglieder des Ministerrates zu unterbreiten. Die 12. Tagung der Volkskammer findet am 17. und 18. November statt. Sie wird die Regierungserklärung und die Ministerliste entgegennehmen und darüber nach erfolgter Aussprache beschließen.
Neues Deutschland, Organ des Zentralkomitees der Sozialistischen Einheitspartei Deutschlands, Di, 14.11.1989, 44. Jahrgang, Nr. 268, B-Ausgabe,
Berlin. Zum Präsidenten der Volkskammer der DDR wurde von den Abgeordneten der höchsten Volksvertretung auf ihrer gestrigen 11. Tagung in Berlin Dr. Günther Maleuda, Vorsitzender der Demokratischen Bauernpartei Deutschlands, gewählt. Da im ersten Wahlgang keiner der fünf Kandidaten die erforderliche Hälfte aller Stimmen erhalten hatte, machte sich eine Stichwahl zwischen den beiden, die die meisten Stimmen auf sich vereinen konnten, erforderlich. Dabei setzte sich Günther Maleuda mit 246 Stimmen gegen Manfred Gerlach, Vorsitzender der Liberal-Demokratischen Partei Deutschlands, durch (230 Stimmen).
Das spannungsreiche Lehrbeispiel einer demokratischen Wahl beginnt Punkt 10.30 Uhr. Hans Jendretzky, mit 92 Jahren Zweitältester Abgeordneter der Volkskammer, tritt ans Rednerpult, um die Wahl zu leiten. Er teilte mit, dass der bisherige Präsident der Volkskammer, Horst Sindermann, sein Stellvertreter Gerald Götting und alle Mitglieder des Präsidiums der obersten Volksvertretung zurückgetreten sind. Weiterhin gibt er eine Mitteilung des Vorsitzenden des Staatsrates zur Kenntnis, dass auf der 12. Tagung der Volkskammer Änderungen der Zusammensetzung des Staatsrates erörtert werden. Einstimmig wird sodann die Tagesordnung beschlossen: Wahl des Präsidenten der Volkskammer, Wahl des Stellvertreters und des Präsidiums, Aussprache zur politischen Lage im Lande, Abberufung des Vorsitzenden und der Mitglieder des Ministerrates, Wahl des Vorsitzenden des Ministerrates, Auftrag zur Regierungsbildung und Einberufung der 12. Tagung der Volkskammer.
Hans Jendretzky erläutert dann den Ablauf der Wahl, wie er im demokratischen Block und in den Fraktionen vereinbart wurde. Es wird eine geheime Wahl durchgeführt, alle Volksvertreter finden auf ihnen ausgehändigten Stimmzetteln die Namen der von den Fraktionen vorgeschlagenen Kandidaten: Dr. Günther Maleuda (DBD), Christine Wieynk (CDU), Prof. Dr. Manfred Gerlach (LDPD), Prof. Dr. Manfred Mühlmann (NDPD), Dr. Günter Drefahl (Kulturbund). Es darf nur einer angekreuzt werden, wer mehr als 50 Prozent der Stimmen erreicht, gilt als gewählt.
Dann stehen die Abgeordneten der Volkskammer Schlange: an den links und rechts im Plenarsaal aufgestellten gläsernen Wahlurnen. An zwei grünen Tischen erfolgt im gleichen Raum unter aller Augen daraufhin die Auszählung. Vertreter aller Fraktionen beaufsichtigen direkt an den Tischen die Registrierung der Stimmen, für die CDU Unionsfreundin Bärbel Behrens. Laut verliest der Leiter des Sekretariats der Volkskammer, Herbert Kelle, den Namen von jedem Stimmzettel. Eine anstrengende halbstündige Prozedur für die Beteiligten.
Herbert Kelle tritt ans Rednerpult und verkündet das Ergebnis: Günther Maleuda - 185 Stimmen, Christine Wieynk - 62 Stimmen, Manfred Gerlach - 111 Stimmen, Manfred Mühlmann - 61 Stimmen, Günter Drefahl - 53 Stimmen. Er verweist darauf, dass keiner der Kandidaten mehr als die Hälfte der Stimmen auf sich vereinigen konnte und sich deshalb ein zweiter Wahlgang erforderlich macht, bei dem Günther Maleuda und Manfred Gerlach kandidieren. Nach einer 30minütigen Pause wiederholt sich der ganze Vorgang noch einmal, ehe gegen 13.05 Uhr, nach mehr als zweieinhalbstündiger Wahlhandlung, Herbert Kelle das endgültige Ergebnis verliest: 477 Stimmen wurden abgegeben, davon entfielen 246 auf Dr. Günther Maleuda und 230 auf Prof. Dr. Manfred Gerlach, eine Stimme war ungültig. Beifall klingt auf und die ersten Glückwünsche empfängt Volkskammerpräsident Dr. Günther Maleuda von Egon Krenz und Manfred Gerlach.
Nach der Mittagspause traten die Abgeordneten in Punkt zwei der Tagesordnung ein. Der neugewählte Präsident der Volkskammer übernahm die Leitung. In schicksalsschwerer Zeit, so sagte er einleitend, habe er eine große Verantwortung übernommen. Er sei dankbar für das Vertrauen und versicherte, dass es sein .Ziel sei, mit der Kraft und der Autorität der Abgeordneten den Erwartungen zu entsprechen, die der Arbeit der obersten Volksvertretung entgegengebracht werden.
Für die Wahl des Stellvertreters des Präsidenten sowie das Präsidium der Volkskammer lag ein gemeinsamer Vorschlag aller Fraktionen vor, über den en block abgestimmt wurde. Zum Stellvertreter des Präsidenten wurde vorgeschlagen Dr. Werner Jarowinsky, SED- Fraktion, zu Mitgliedern des Präsidiums Dr. Käte Niederkirchner, SED-Fraktion; Michael Koplanski, DBD-Fraktion; Wolfgang Heyl, CDU-Fraktion; Hans-Dieter Raspe, LDPD-Fraktion; Günter Hartmann, NDPD-Fraktion; Christel Bednareck, FDGB-Fraktion; Eva Rohmann, DFD-Fraktion; Cornelia Wolfram, FDJ-Fraktion; Prof. Dr. Karl-Heinz Schulmeister, Fraktion des Kulturbundes; Prof. Dr. Werner Scheler, VdgB-Fraktion sowie Heinz Elchler, Sekretär des Staatsrates des-DDR
Der Vorschlag wurde mit einer Gegenstimme und drei Stimmenthaltungen angenommen. Dann begann die Aussprache zur politischen Lage in der Deutschen Demokratischen Republik.
Die Bereitschaft der CDU, für einen erneuerten Sozialismus auf deutschem Boden zu wirken, unterstrich Christine Wieynk für die Fraktion ihrer Partei.
Für die anderen Fraktionen der, Volkskammer sprachen Werner Jarowinsky (SED), Michael Koplanski (DBD), Hans-Dieter Raspe (LDPD), Günther Hartmann (NDPD), Annelis Kimmel (FDGB), Eva Rohmann (DFD); Lutz Ahnfeld (FDJ), Manfred von Ardenne (Kulturbund) und Manfred Scheler (VdgB). Es nahmen weitere Abgeordnete das Wort.
Von unseren Berichterstattern Carola Schütze und Matthias Schlegel
Neue Zeit, Zentralorgan der Christlich-Demokratischen Union Deutschlands, Nr. 268, 45. Jahrgang, Ausgabe B, Di. 14.11.1989
BERLIN. Die Volkskammer der DDR ist gestern zu Ihrer 11.Tagung zusammengetreten. Zum Präsidenten wurde nach einer Stichwahl der Abgeordnete Dr. Günther Maleuda gewählt.
Die Tagung wunde vom zweitältesten Abgeordneten, Hans Jendretzky (FDGB), geleitet, da der Präsident und die Mitglieder des Präsidiums zuvor zurückgetreten waren.
Auf der Tagesordnung standen die Wahl des Präsidenten, seines Stellvertreters und der Mitglieder des Präsidiums der Volkskammer, eine Aussprache zur politischen Lage in der DDR, die Abberufung der Regierung und die Wahl des Vorsitzenden des Ministerrates sowie die Erteilung des Auftrages zur Regierungsbildung und die Einberufung der 12. Tagung des Parlaments.
Für die Wahl des Präsidenten, die auf Antrag mehrerer Fraktionen geheim erfolgte, waren fünf Kandidaten nominiert. Im ersten Wahlgang erhielten Dr. Günther Maleuda (DBD) 185 Stimmen, Prof. Dr. Manfred Gerlach (LDPD) 111 Stimmen, Christine Wieynik (CDU) 62 Stimmen, Prof. Dr. Manfred Mühlmann (NDPD) 61 Stimmen und Prof. Dr. Günther Drefahl (Kulturbund) 53 Stimmen. Von den 478 stimmberechtigten Abgeorcineteti nahmen 477 an der Wahl teil. Fünf Stimmen waren ungültig. Da keiner der Kandidaten die notwendige Stimmenmehrheit von 240 erreichte, war eine Stichwahl zwischen den Abgeordneten Dr. Günther Maleuda und Prof. Dr. Manfred Gerlach erforderlich.
Mit 246 Stimmen wurde im zweiten Wahlgang der Abgeordnete Maleuda zum Präsidenten der Volkskammer gewählt. Sein Gegenkandidat erhielt 230 Stimmen. Eine Stimme von den 477 abgegebenen war ungültig.
Nach der Mittagspause wurden der Stellvertreter des Präsidenten und die Mitglieder des Präsidiums der Volkskammer gewählt. In offener Abstimmung billigten die Abgeordneten die Vorschläge der Fraktionen bei einer Gegenstimme und drei Enthaltungen en block Stellvertreter des Präsidenten der Volkskammer ist Dr. Werner Jarowinsky, Vorsitzender der SED-Fraktion. Dem Präsidium gehören weiter an Dr. Käthe Niederkirchner (SED), Michael Koplanski (DBD), Wolfgang Heyl (CDU), Hans-Dieter Raspe (LDPD), Günter Hartmann (NDPD), Christel Bednareck (FDGB), Eva Rohmann (DFD), Cornelia Wolfram (FDJ), Prof. Dr. Karl-Heinz Schulmeister (Kulturbund), Manfred Scheler (VdgB), Heinz Eichler, Sekretär des Staatsrates.
Vor der Abstimmung hatte Volkskammerpräsident Dr. Günther Maleuda für das ihm ausgesprochene Vertrauen gedankt und die Tagungsleitung übernommen.
Vertreter aller Fraktionen ergriffen das Wort
Als erster Sprecher in der Aussprache zur politischen Lage erklärte Dr. Werner Jarowinsky (SED), Erneuerung des Sozialismus sei ohne Erneuerung des politischen Systems nicht denkbar. Das Ziel der SED besteht darin, die Macht der Arbeiter und Bauern in der Form des sozialistischen Staates zu stärken. Sie tritt für Änderungen in der Verfassung und für durchdachte neue Gesetze ein. Jarowinsky nannte das Wahlgesetz, das Vereinigungsgesetz, das Mediengesetz und Änderungen im Strafrecht. Seine Partei, so der Redner, habe den Wunsch nach Zusammenarbeit aller politischen Kräfte auf gleichberechtigter Grundlage. Er sprach sich für eine demokratische Koalitionsregierung unter Beteiligung parteiloser Experten aus.
Die Fraktion der DBD fordere, erklärte Michael Koplanski, dass die volkswirtschaftliche Lage der DDR schonungslos offengelegt wird. Wenn man weiß, wo man steht und wo man hin will, so stellte er fest, dann komme man auch aus einer schwierigen Situation heraus. Die DBD trete u. a. dafür ein, dass jedes Dort eine Perspektive hat, Unterschiede im Versorgungsniveau auf dem Lande abgebaut und die Infrastruktur verbessert werden.
Christine Wieynk äußerte sich im Namen der CDU-Fraktion verbittert darüber, dass die Volkskammertagung erst jetzt, nach langem Drängen zustande gekommen ist. Wir sind enttäuscht darüber, so sagte sie, dass die zurückgetretene Regierung gegenüber der Volkskammer nicht Rechenschaft abgelegt hat. Sie hob hervor, dass sich die Kirche sehr um die Zukunft unseres Landes verdient gemacht habe. Sie engagierte sich frühzeitig für eine Erneuerung und musste dafür die staatliche Missbilligung hinnehmen.
Auf faszinierende Weise ist eine Volksaussprache in unserem Lande in Gang gekommen, die Klugheit, politische Sensibilität, Bereitschaft für ein sinnvolles Engagement reflektiere, so die Feststellung von Hans-Dieter Raspe. Die Fraktion der LDPD sieht Ursachen für die entstandene komplizierte, gefahrvolle Situation in der DDR in der Lähmung der SED, dem Machtmissbrauch und in dem Nichtfunktionieren des Bündnisses.
Im Namen der NDPD-Fraktion sprach Günter Hartmann, seine Wortmeldung wird veröffentlicht.
Einen beträchtlichen Vertrauensverlust haben wir auch als Gewerkschaft zu verzeichnen, brachte Annelis Kimmel, Fraktion des FDGB, zum Ausdruck. Als politisches Organ der Werktätigen muss sich die Gewerkschaft dafür einsetzen, dass der Wille der Werktätigen, in der Produktion ergebnisreich und kontinuierlich zu arbeiten, auch materiell untersetzt wird. Sie sprach sich u. a. für dis Bildung eines Ministeriums für Arbeits- und Sozialpolitik, die Überarbeitung der Arbeitsgesetzbuches sowie soziale Gesetzgebungen aus.
Die Sprecherin der DFD-Fraktion, Eva Rohmann, forderte die Schaffung eines Volkskammerausschusses zu Frauenfragen. Eva Rohmann erklärte, dass die Subventionspolitik in unserem Lande neu überdacht werden müsste, ohne jedoch die Lebensqualität von Familien mit mehreren Kindern und die soziale Sicherheit älterer Mitbürger zu gefährden. Lutz Ahnfeld, Sprecher der FDJ-Fraktion, forderte im Laufe seiner Rede das klare Bekenntnis aller zu ihren Fehlern - in der Wirtschaft, bei den Kommunalwahlen und beim "Sputnik"-Verbot. Das Volk sei durch Fehlentscheidungen hintergangen worden, deshalb seien die Schuldigen konsequent zur Verantwortung zu ziehen.
Tiefgreifende Reformen zur Erhöhung der Effizienz der Volkswirtschaft forderte Prof. Dr. Manfred von Ardenne (Kulturbund). Er schlug den raschen Übergang vom hochbürokratisierten und überzentralisierten Mechanismus der DDR-Wirtschaft zur sozialistischen Marktwirtschaft mit einer Verlagerung der Verantwortung an die Peripherie vor. Unbewegliche Kombinate seien aufzulösen, kleine und mittlere Betriebe seien zu gründen, um notwendige Innovationen zu sichern.
Letzter Fraktionsredner war Manfred Scheler (VdgB). Er sagte, Administration und Bürokratie hätten den Genossenschaftsbauern in der Vergangenheit geschadet. Nun sei es an der Zelt, den in der Landwirtschaft Tätigen mehr Eigeninitiative zu ermöglichen. Sie müssten selbst über die Nutzung ihrer Potenzen entscheiden können.
Die Debatte, in der zahlreiche weitere Abgeordnete spontan das Wort ergriffen bzw. Anfragen stellten, dauerte bei Redaktionsschluss noch noch an.
Die Volkskammerfraktion der NDPD hatte auf ihrer Sitzung am Sonntag, die bei Redaktionsschluss unserer gestrigen Ausgabe noch andauerte, die Plattform für das Auftreten der Fraktion in der Tagung der Volkskammer mit einer Gegenstimme gebilligt.
Dr. Günther Maleuda vor Journalisten: Den Willen des Volkes verwirklichen
Unmittelbar im Anschluss an seine Wahl stellte sich Dr. Günther Maleuda den Fragen der Journalisten. Er erklärte, es müsse jetzt eine Demokratie geschaffen werden, die vom Volk getragen und ausgestaltet wird.
Das sei eine Verpflichtung besonders für die Abgeordneten, die in den kommenden Tagen und Wochen durch große Bürgernähe versuchen müssen, verlorengegangenes Vertrauen zurückzugewinnen. Der Volkskammerpräsident erklärte, es sei ihm nun eine große Verantwortung übertragen worden. Er dankte den Abgeordneten, die ihm ihre Stimme gaben, und sprach seine Gewissheit aus, dass es auch zu einer fruchtbaren Zusammenarbeit mit den anderen Abgeordneten kommen werde. Als sein Credo bezeichnete er, den Willen des Volkes zu verwirklichen.
Auf die Veränderung der Rolle der Abgeordneten angesprochen, sagte Günther Maleuda, schon die Vorbereitung dieser Volkskammertagung sei von dem großen Bemühen gekennzeichnet worden, sich für eine Änderung der Wirksamkeit der Abgeordneten einzusetzen. Die Abgeordneten seien diesmal nicht nach Berlin gekommen, um nur abzustimmen. Es sollten Sachfragen geklärt werden, "Ich möchte unterstreichen, dass wir natürlich auch gesetzliche Grundlagen und Bestimmungen kurzfristig ausgestalten müssen, was sich speziell auf die Geschäftsordnung der Volkskammer bezieht." Weiterhin sprach sich Dr. Maleuda für ein neues Wahlgesetz aus.
Auf die Frage der National-Zeitung nach den Perspektiven der Zusammenarbeit der Parteien in der DDR antwortete der Volkskammerpräsident: "Die sehe ich sehr konstruktiv. Ich glaube, dass ein ganz bedeutender Schritt bereits in diesen Tagen erfolgte, in Vorbereitung der Regierungsbildung und der Ausarbeitung des Regierungsprogramms. Es hat erste - wenn ich so sagen darf - Koalitionsgespräche gegeben, und ich bin sehr optimistisch, dass in einer sehr gleichberechtigten, offenen und konstruktiven Beratung aller Parteien die notwendigen Voraussetzungen zur Ausgestaltung dieses Mehrparteiensystems erfolgt." Nach den Inhalten der Koalitionsgespräche befragt, wollte Dr. Maleuda keine näheren Einzelheiten nennen.
Nach der internationalen Arbeit des DDR-Parlaments befragt, sagte dessen Präsident, dass sich die Volkskammer neuen Anforderungen stellen muss. Das betreffe auch die Arbeit mit den Medien.
Von unseren Parlamentsberichterstattern Barbara Scheil, Harald Schulzendorf und Oliver Michalsky
National Zeitung, Nr. 268, 42. Jahrgang, Di. 14.11.1989