Letzte Tagung der 9. Volkskammer am 07.03.1990


Berichte aus Neues Deutschland und der tageszeitung DDR-Ausgabe


Es war die letzte Tagung dieser Volkskammer, die gestern zu Ende ging, aber es war gewiss nicht "das Letzte", was diese Kammer in ihrer Legislaturperiode geleistet hat. Sie wandelte sich im 89er Herbst vom Abstimmungsparlament zu einer arbeitenden Körperschaft, wie Präsident Dr. Günther Maleuda in einem bewegenden Resümee feststellte. Und dass in den Wochen seitdem ein gewaltiges Pensum bewältigt wurde, ist auch Hans Modrow und seiner Regierungsmannschaft zu danken.

Stehende Ovationen deshalb von allen Fraktionen für den Ministerpräsidenten. Der Regierungschef hatte zu Beginn der Tagung das Hohe Haus über Ergebnisse seines Moskaubesuchs Informiert; wichtige Punkte der Übereinstimmung in den Gesprächen dort:

deutsch-deutsche Vereinigung ja, aber nicht Anschluss oder Vereinnahmung der DDR;

keine Integration eines künftigen Deutschland in die NATO;

verbindliche Anerkennung der Oder-Neiße-Grenze durch die DDR und die BRD und durch den künftigen deutschen Staat.

Das Plenum der Volkskammer beschloss anschließend mehrheitlich die Grundlinie und Standpunkte für eine Sozialcharta. Die Charta setzt Eckpunkte für den Sozialverbund, der Währungs- und Wirtschaftsunion begleiten soll, beispielsweise Recht auf Arbeit, Demokratisierung und Humanisierung des Arbeitslebens, Gleichstellung der Geschlechter, Recht auf Wohnen.

Die kulturelle Identität des Landes und seiner Bürger sei in Gefahr, mahnte Kulturminister Keller. Aufhebung der politischen und ideologischen Zensur dürften nicht zur "Freiheit" der ökonomischen Zensur werden. Die Abgeordneten beschlossen staatliche Pflichten zum Schutz und zur Förderung von Kultur und Kunst. Mehrheitlich angenommen wurde auch das Versammlungsgesetz, das Gesetz über die Gründung und Tätigkeit privater Unternehmen und über Unternehmensbeteiligung, das Gesetz über den Verkauf volkseigener Gebäude sowie das Gesetz zum Vertrag über den Verzicht auf Legalisation von Urkunden zwischen der DDR und dem Königreich Dänemark.

Zum Abschluss dann Blumen für den Mann, der die Arbeit der Kammer seit dem Herbst 89 souverän leitete: für Dr. Günther Maleuda.

Neues Deutschland, Do. 08.03.1990

Mit einer heftigen und kontroversen Diskussion über die Frage, ob und zu welchen Konditionen der DDR-Kleingärtner auch im künftig geeinten Deutschland seine Radieschen ernten darf, endete die letzte Tagung der Volkskammer. Begonnen hatte sie mit der Erklärung des gehetzten Hans Modrow über die Ergebnisse seiner Gespräche in Moskau. Doch zuvor versuchte der Premier sein Volk zu beruhigen und die Verunsicherung über die Zukunft ihrer Spareinlagen zu zerstreuen. Modrow beschwörend zu den Abgeordneten: "Meine Regierung ist weder bereit noch befugt, eine Währungsunion mit der BRD einzugehen. Das kann erst von der neuen Regierung nach dem 18. März beschlossen werden."

In der Frage der polnischen Westgrenze ließ Modrow keinen Zweifel an der Position der DDR aufkommen. Die Oder-Neiße-Grenze wird auch die Grenze des künftigen deutschen Bundesstaates zu Polen sein. 'Bild' fragte am Mittwoch morgen: "Modrow: Verrat in Moskau?", und bezog sich damit auf ZDF-Informationen, wonach der DDR-Regierungschef Gorbatschow aufgefordert haben soll, DDR-Position in den 6er Verhandlungen über die Vereinigung Deutschlands zu vertreten. Kein Anschluss nach Grundgesetz Artikel 23Artikel 23, kein Widerruf der nach 45 erfolgten Vermögensumverteilung. Für 'Bild' im Wahlkampf: Landesverrat. Modrow machte in seiner Erklärung kein Hehl daraus, dass seine Regierung nicht den Anschluss, sondern die Vereinigung anstrebt, und dass die Eigentumsverhältnisse in der DDR zu wahren sind. Bei der NATO-Frage verwies Modrow auf die klare Haltung Moskaus.

Als die Minister Böhm und Poppe, die am Montag vom Runden Tisch verabschiedete Sozialcharta den Abgeordneten zur Annahme vorlegten und Poppe dabei ein klares Alternativszenario zum kalten Anschluss zeichnete, kam Bewegung in den rechten Flügel des Hauses. Ausarbeitung einer neuen Verfassung, Volksabstimmung über dieses Papier am 17. Juni oder und dann eine gemeinsame verfassungsgebende Versammlung beider deutscher Staaten. Nur so, in der Ausarbeitung einer neuen Verfassung für ein neues Deutschland, sei die Würde und Selbstachtung der DDR-Bürger zu respektieren. Wer den Anschluss nach Artikel 23 will, so Poppe weiter, soll wenigstens so ehrlich sein und auch der vorgelegten Sozialcharta, die weit über das Grundgesetz hinausgeht, seine Zustimmung verweigern. Drei Gegenstimmen und elf Enthaltungen, vornehmlich aus den Reihen der CDU-Fraktionen, waren die Antwort auf Poppes Offensive. Der Kulturminister widerrief seine marktwirtschaftlichen Leitsätze aus dem vorigen Dezember. Er reagierte damit auf die anhaltenden Proteste der Künstlerverbände. Ein Kulturschutzgesetz wurde ohne Gegenstimme angenommen. Die Kleingärtnerlobby von PDS bis CDU meldete bei der Debatte über das Gesetz über den Verkauf volkseigener Gebäude, ihre Interessen massiv an. Verabschiedet wurde das Gesetz jedoch der Zeit gehorchend ohne Änderung. André Meier

die tageszeitung, DDR-Ausgabe, Do. 08.03.1990

Die Sozialcharta wird von Tatjana Böhm (UFV) und Gerd Poppe (IFM) begründet.

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